- 55 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (54)Nächste Seite (56) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

der »Lesbarkeit« musikalischer Prozesse für eine (Bühnen-)welt, die zwar einerseits gegenständlich ist, andererseits jedoch musikalisch bestimmt sein soll. Darin, dass die Oper diese Gegensätzlichkeit in sich aufzunehmen habe, stimmen Hegel und Felsenstein überein.

In der direkt vorhergehenden Passage schildert Hegel den Misstand, den das Nebeneinander von »prosaischem Gewäsch des Dialogs« und Musik mit sich bringe. Im Gegensatz dazu besteht die Qualität der »eigentlichen Oper« darin, dass sie die Zuhörer »in eine höhere Kunstwelt hinüberversetzt« deren Charakter ein musikalischer ist. Felsensteins Forderung lautet ähnlich: Musiktheater müsse ein »gesteigertes Dasein«11

11
in: Felsenstein, Walter/Melchinger, Siegfried: Musiktheater, Bremen, Schünemann, 1961, S. 78
beim Zuschauer bewirken. Dies leiste Gesang, denn »der singende Mensch auf der Bühne läßt den Alltag zurück aber nicht das Leben«.12
12
ebd., S. 58
Zu klären ist nun, wie diese »höhere Kunstwelt« beschaffen ist, wenn sie eine musikalische ist.

Hegel bestimmt als

»Hauptaufgabe der Musik, [...] nicht die Gegenständlichkeit selbst, sondern im Gegenteil die Art und Weise wiederklingen zu lassen, in welcher das innerste Selbst seiner Subjektivität und ideellen Seele nach in sich bewegt ist.«13

13
Hegel, S. 135

Das »Ideelle der Seele« bedeutet hier, dass die musikalische Rezeption sich weitestgehend befreit von jeglicher materieller Beschränktheit, da dasjenige, was rezipiert wird – nämlich Klang – dann, wenn es rezipiert wird, immerzu seine materielle Gestalt abstreift. Die subjektiven, dem wahrnehmenden Subjekt innewohnenden Instanzen sind nur wenig an die materielle Erscheinung des rezipierten Gegenstandes gebunden, wenn dieser selbst als flüchtiger Klang erscheint. Folglich ist der Inhalt von Musik nach Hegel »gegenstandslose Innerlichkeit«. Hegel unterscheidet hier noch nicht zwischen absoluter und wie auch immer konkretisierter Musik. Es geht an dieser Stelle erst einmal um die grundsätzliche Klärung dessen, was das Musikalische überhaupt ausmacht. Wie diese Bestimmungen der Musik im Kontext von Musiktheater aussehen, muss später behandelt werden, gerade die analytische Trennung der Elemente ist hier aus den oben beschriebenen Gründen nötig.

Hegel spricht von ›Innerlichkeit‹, weil sich der Eindruck beim Musikhören sofort im Inneren des Zuhörers abspielt, »nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern die erste ideellere Seelenhaftigkeit zum Vorschein kommt«.14

14
Hegel, S. 134
Weil die objektive Erscheinung, durch die die Innerlichkeit des Rezipienten angerührt wird, sofort verschwindet, nämlich der Klang, ist Musik ›gegenstandslos‹. Sobald sich das Objektive äußert, verschwindet es und zurück bleibt eine innere Bewegtheit des Selbst im Zuhörer. Man könnte sagen, dass das musikalische Kunstwerk gewissermaßen mit einer Selbstbetrachtung zusammenfällt. Dieses selbstreflexive Moment bezieht sich jedoch nicht nur – um einer Verkürzung rezeptionsästhetischer Ansätze vorzubeugen – auf die Subjektivität des Zuhörers, sondern auch auf den Komponisten,

Erste Seite (i) Vorherige Seite (54)Nächste Seite (56) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 55 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch