- 24 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Diese Maximen der Kunst – geschaffen zu sein nach dem Leben, ihre Gegenstände wahr darzustellen sowie Erkenntnisse in »neue Stufen menschlicher Ethik und Moral« zu vermitteln – sind die realistischen Grundlagen von Felsensteins Theaterauffassung. Felsensteins Äußerungen über seinen Realismus-Begriff sind, wie gesagt, spärlich. Explizit setzt er Realismus mit Verständlichkeit gleich:

»Realistisch ist kein präzises Wort. Es wäre besser, einfach zu sagen: verständlich oder unverständlich.«36

36
Felsenstein: Schriften, S. 151

Keinesfalls ist jede verständliche Kunst realistisch. Die Forderung nach Verständlichkeit ergibt sich aus der Abgrenzung einerseits zum Naturalismus, andererseits zur Abstraktion als Darstellungsstil. Verständlichkeit zu fordern, macht erst da Sinn, wo sie nicht gesichert ist. Wenn Wirklichkeit bloß naturalistisch nachgeahmt wird, stößt diese Nachahmung nicht auf Verständnisschwierigkeiten. Erst eine andere als naturalistische Darstellung kann gerade durch ihren Abstand zur Wirklichkeit unverständlich werden.

»Alles auf der Bühne, was nicht naturalistisch ist, ist stilisiert.«37

37
ebd., S. 151

Der Kunst lägen folglich zwei mögliche Formgesetze zugrunde: das mit der Wirklichkeit identische und das Formgesetz der Stilisierung. Wiederhole die Kunst nur das ›Leben‹,38

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Dieser Auffassung liegt eine dualistische Vorstellung des Verhältnisses von Kunst und ›Leben‹ zugrunde, ob es nun ›Leben‹, ›Wirklichkeit‹ oder ›Natur‹ heißt. Problematisch scheint mir diese Vorstellung dann zu sein, wenn sie Kunst nicht als verwirklichte, spezifische Aneignung eines Gegenstandes auffasst und so gerade durch den obigen Dualismus der Kunst ihren autarken Raum nimmt
verliere sie ihre spezifische Qualität als Kunst. Da sich Kunst notwendig vom Leben unterscheiden müsse (und das Musiktheater dies ganz offensichtlich tut), läuft sie Gefahr, nicht mehr verstanden werden zu können. Verständlichkeit fungiert als Maß für die Abweichung des Formgesetzes eines Kunstwerkes von den Gesetzen des ›Lebens‹.

Die Grenze der Abweichung ist für Felsenstein bei ›szenischen Abstraktionen‹ überschritten.39

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»Teilen wir die Stilisierungen in zwei Gruppen: die eine, die allgemein verständlich ist, und die andere, die nicht nur unverständlich bleibt, sondern sogar die Absicht hat, unverständlich zu sein, damit man sie nicht mehr überprüfen kann. Dazu gehört die Möglichkeit einer qualitativen Beurteilung.« ebd., S. 151
Damit Theater ein Instrument der Erkenntnis und ›überprüfbar‹ sein kann, muss es verständlich bleiben. Indem Felsenstein auch hier nur die Bedingung für wahre Kunst benennt, nämlich ihre Verständlichkeit, kann man – insbesondere, wenn man den Kontext der normativen Ästhetik des Sozialistischen Realismus mitdenkt – feststellen, dass er Kriterien für diese Wahrheit eher verschweigt, indem er nur ihre Bedingung betont. Seine auffallend unpolitische Haltung mag ein weiteres Beispiel verdeutlichen:

»Realistisch heißt wirklich, und wirklich ist ja nur das, was wahr ist [!]. Ebenso [!] ist auch nur das schön, was wahr ist. Und hier liegt die Grundfrage für das realistische Musiktheater.« 40

40
ebd., S. 441


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