Diese Maximen der Kunst – geschaffen zu sein nach dem Leben, ihre Gegenstände
wahr darzustellen sowie Erkenntnisse in »neue Stufen menschlicher Ethik und Moral« zu
vermitteln – sind die realistischen Grundlagen von Felsensteins Theaterauffassung.
Felsensteins Äußerungen über seinen Realismus-Begriff sind, wie gesagt, spärlich.
Explizit setzt er Realismus mit Verständlichkeit gleich:
»Realistisch
ist kein präzises Wort. Es wäre besser, einfach zu sagen: verständlich oder
unverständlich.«36
Felsenstein: Schriften, S. 151
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Keinesfalls ist jede verständliche Kunst realistisch. Die Forderung nach Verständlichkeit
ergibt sich aus der Abgrenzung einerseits zum Naturalismus, andererseits zur
Abstraktion als Darstellungsstil. Verständlichkeit zu fordern, macht erst da Sinn, wo sie
nicht gesichert ist. Wenn Wirklichkeit bloß naturalistisch nachgeahmt wird, stößt diese
Nachahmung nicht auf Verständnisschwierigkeiten. Erst eine andere als naturalistische
Darstellung kann gerade durch ihren Abstand zur Wirklichkeit unverständlich
werden.
»Alles auf der Bühne, was nicht naturalistisch ist, ist
stilisiert.«37
Der Kunst lägen folglich zwei mögliche Formgesetze zugrunde: das mit der Wirklichkeit
identische und das Formgesetz der Stilisierung. Wiederhole die Kunst nur das
›Leben‹,38
Dieser Auffassung liegt eine dualistische Vorstellung des Verhältnisses von Kunst und ›Leben‹
zugrunde, ob es nun ›Leben‹, ›Wirklichkeit‹ oder ›Natur‹ heißt. Problematisch scheint mir
diese Vorstellung dann zu sein, wenn sie Kunst nicht als verwirklichte, spezifische Aneignung
eines Gegenstandes auffasst und so gerade durch den obigen Dualismus der Kunst ihren
autarken Raum nimmt
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verliere sie ihre spezifische Qualität als Kunst. Da sich Kunst notwendig vom Leben
unterscheiden müsse (und das Musiktheater dies ganz offensichtlich tut), läuft sie
Gefahr, nicht mehr verstanden werden zu können. Verständlichkeit fungiert als Maß für
die Abweichung des Formgesetzes eines Kunstwerkes von den Gesetzen des
›Lebens‹.
Die Grenze der Abweichung ist für Felsenstein bei ›szenischen Abstraktionen‹
überschritten.39
»Teilen wir die Stilisierungen in zwei Gruppen: die eine, die allgemein verständlich ist, und
die andere, die nicht nur unverständlich bleibt, sondern sogar die Absicht hat, unverständlich
zu sein, damit man sie nicht mehr überprüfen kann. Dazu gehört die Möglichkeit einer
qualitativen Beurteilung.« ebd., S. 151
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Damit Theater ein Instrument der Erkenntnis und ›überprüfbar‹ sein kann, muss es
verständlich bleiben. Indem Felsenstein auch hier nur die Bedingung für wahre Kunst
benennt, nämlich ihre Verständlichkeit, kann man – insbesondere, wenn man den
Kontext der normativen Ästhetik des Sozialistischen Realismus mitdenkt –
feststellen, dass er Kriterien für diese Wahrheit eher verschweigt, indem er nur ihre
Bedingung betont. Seine auffallend unpolitische Haltung mag ein weiteres Beispiel
verdeutlichen:
»Realistisch heißt wirklich, und wirklich ist ja nur das, was
wahr ist [!]. Ebenso [!] ist auch nur das schön, was wahr ist.
Und hier liegt die Grundfrage für das realistische Musiktheater.«
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