- 153 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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dort ihre neuen Empfindungen aus, die sie innerlich schon bewegen, denen sie sich aber noch gar nicht in vollem Umfang klar ist – sie negieren ihre komplette bisherige Existenz. Dieser innere Zustand ist prädestiniert für einen musikalischen Ausdruck. Die ihr selbst noch gar nicht bewussten »inneren Bewegungen der Seele« (Hegel) bilden den zwingenden Anlass, zu singen. Die vorangehende Chor-Szene, resultierend aus einem für Violetta neuen Blickwinkel auf ihre alte Pariser Lebewelt, den sie selbst noch gar nicht vollständig erfasst hat, wird zur Voraussetzung der Ariensituation Violettas. Die in dieser Weise entwickelte Situation kennzeichnet vor allem der plötzlich entstandene innerliche Abstand zu ihren ehemaligen Freunden, entstanden durch das ihr neue Gefühl der Liebe.232
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Um auch einen Eindruck vom nicht nur mitreißenden, sondern geradezu plastische Vorstellungen beim Zuhörer hervorrufenden Felsenstein zu bekommen, sei eine längere Passage zitiert, in der Felsenstein diese entscheidende Situation der Violetta zu ihrer Arie darlegt. Aus der von Violetta gerade gemachten Erfahrung, die zu Alfred aufkeimende, erste echte Liebe und den daraus sich ergebenden Änderungen in ihrem Leben, lässt Felsenstein in seinem Vortrag, in dem er den Untertext der Violetta spricht, den Zuhörer den inneren Zustand der Violetta nacherleben: völlig aufgelöst, unbewusst, in höchstem Grade von der eigenen Gefühlswelt dominiert. »Und jetzt geht es allegro, allegro! ›wie seltsam, wie seltsam, ins Herz drang mir jenes eine Worte!‹ [Felsenstein markiert im allegro, gehetzt vom eigenen Gefühl Violettas; nimmt die zweiunddreissigstel-Figuren des accompagnato mit in den Ausdruck der Violetta, indem er sie im gleichen Duktus mitsingt.] ›Wär’ es für mich ein Unglück, ernsthaft zu lieben? Was geschieht hier, oh . . . ‹ usw. Allegro! Allegro, dies arme Tier kann ja nicht begreifen, was passiert ist. Das, was hier geschehen ist, diese scheußlich-schöne Festlichkeit, die über sie hereingebraust ist, Kniefall wurde ihr gemacht, die Hand geküsst, sie wurde umarmt, ihr zugejubelt und hinaus, das sind dieselben Leute? Das sind die! Das, das ist Gaston, da sind ja alle, da sind ja alle, das ist doch nicht Alfred und da steht, in meiner Phantasie steht, davor steht Alfred, das ist, wie, wie Mars und Erde, das unvereinbar, das gibt es ja gar nicht! [Felsenstein lässt Violettas Zustand stammelnd entstehen.] Das gibt es ja gar nicht, nicht jetzt ›wie seltsam‹ ich kann nicht nachdenken, sondern ich bin auch kein Hamlet jetzt, der einen Monolog hält, sondern ich bin fassungslos, ›wie seltsam, wie seltsam [Felsenstein gehetzt im Falsett], ins Herz drangen mir jene Worte.‹ Welche Worte drangen mir ins Herz? Alfreds Worte, wieso komme ich auf Alfreds Worte? Ich habe die Worte gehört [Felsenstein brüllt den Aurora-Chor oder Alfreds ›seit einem Jahr schon‹, hier unklar!] und je mehr die toben, hinaustanzen und der Saal verwüstet ist, desto stärker steht hier, hier, wo die Arie gesungen wird, da steht er vor mir, da steht er, da steht er und sagt ›zaubrische Liebe, dadiieda [Felsenstein markiert schwärmerisch Alfreds part], ins Herz drang mir jenes eine Wort.‹ Also, dass kann ich nicht überlegen und denken und konzipieren, das weiß ich nicht, das bricht eben aus mir hervor, das ist eine hilflose, disziplinlose Kundgebung meiner Fassungslosigkeit. Ich weiß es gar nicht und will es gar nicht wissen, ich will auch keine Vorträge halten, ich will auch gar nicht singen, ich wünsche keine Arie, ich weiß nicht, was ich tun soll, ›ins Herz drang mir jenes eine Wort‹ [Felsenstein deutet die accompagnato-Figuren an].« Transkription, S. 38f.


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