dort ihre neuen Empfindungen aus, die sie innerlich schon bewegen,
denen sie sich aber noch gar nicht in vollem Umfang klar ist – sie negieren
ihre komplette bisherige Existenz. Dieser innere Zustand ist prädestiniert für
einen musikalischen Ausdruck. Die ihr selbst noch gar nicht bewussten »inneren
Bewegungen der Seele« (Hegel) bilden den zwingenden Anlass, zu singen. Die
vorangehende Chor-Szene, resultierend aus einem für Violetta neuen Blickwinkel auf
ihre alte Pariser Lebewelt, den sie selbst noch gar nicht vollständig erfasst
hat, wird zur Voraussetzung der Ariensituation Violettas. Die in dieser Weise
entwickelte Situation kennzeichnet vor allem der plötzlich entstandene innerliche
Abstand zu ihren ehemaligen Freunden, entstanden durch das ihr neue Gefühl der
Liebe.232
Um auch einen Eindruck vom nicht nur mitreißenden, sondern geradezu plastische
Vorstellungen beim Zuhörer hervorrufenden Felsenstein zu bekommen, sei eine längere
Passage zitiert, in der Felsenstein diese entscheidende Situation der Violetta zu ihrer Arie
darlegt. Aus der von Violetta gerade gemachten Erfahrung, die zu Alfred aufkeimende, erste
echte Liebe und den daraus sich ergebenden Änderungen in ihrem Leben, lässt Felsenstein
in seinem Vortrag, in dem er den Untertext der Violetta spricht, den Zuhörer den inneren
Zustand der Violetta nacherleben: völlig aufgelöst, unbewusst, in höchstem Grade von
der eigenen Gefühlswelt dominiert. »Und jetzt geht es allegro, allegro! ›wie seltsam, wie
seltsam, ins Herz drang mir jenes eine Worte!‹ [Felsenstein markiert im allegro, gehetzt vom
eigenen Gefühl Violettas; nimmt die zweiunddreissigstel-Figuren des accompagnato mit in
den Ausdruck der Violetta, indem er sie im gleichen Duktus mitsingt.] ›Wär’ es für mich ein
Unglück, ernsthaft zu lieben? Was geschieht hier, oh . . . ‹ usw. Allegro! Allegro, dies arme Tier
kann ja nicht begreifen, was passiert ist. Das, was hier geschehen ist, diese scheußlich-schöne
Festlichkeit, die über sie hereingebraust ist, Kniefall wurde ihr gemacht, die Hand geküsst, sie
wurde umarmt, ihr zugejubelt und hinaus, das sind dieselben Leute? Das sind die! Das, das
ist Gaston, da sind ja alle, da sind ja alle, das ist doch nicht Alfred und da steht, in meiner
Phantasie steht, davor steht Alfred, das ist, wie, wie Mars und Erde, das unvereinbar, das
gibt es ja gar nicht! [Felsenstein lässt Violettas Zustand stammelnd entstehen.] Das gibt es
ja gar nicht, nicht jetzt ›wie seltsam‹ ich kann nicht nachdenken, sondern ich bin auch kein
Hamlet jetzt, der einen Monolog hält, sondern ich bin fassungslos, ›wie seltsam, wie seltsam
[Felsenstein gehetzt im Falsett], ins Herz drangen mir jene Worte.‹ Welche Worte drangen
mir ins Herz? Alfreds Worte, wieso komme ich auf Alfreds Worte? Ich habe die Worte gehört
[Felsenstein brüllt den Aurora-Chor oder Alfreds ›seit einem Jahr schon‹, hier unklar!] und
je mehr die toben, hinaustanzen und der Saal verwüstet ist, desto stärker steht hier, hier,
wo die Arie gesungen wird, da steht er vor mir, da steht er, da steht er und sagt ›zaubrische
Liebe, dadiieda [Felsenstein markiert schwärmerisch Alfreds part], ins Herz drang mir jenes
eine Wort.‹ Also, dass kann ich nicht überlegen und denken und konzipieren, das weiß ich
nicht, das bricht eben aus mir hervor, das ist eine hilflose, disziplinlose Kundgebung meiner
Fassungslosigkeit. Ich weiß es gar nicht und will es gar nicht wissen, ich will auch keine
Vorträge halten, ich will auch gar nicht singen, ich wünsche keine Arie, ich weiß nicht, was ich
tun soll, ›ins Herz drang mir jenes eine Wort‹ [Felsenstein deutet die accompagnato-Figuren
an].« Transkription, S. 38f.
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