- 152 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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nicht nur theoretisch klar machen, sondern sie zwingen, den Alfred tatsächlich dort sitzen zu sehen. Und eine andere Erklärung gibt es nicht, um diesen eben lektorierten Ausbruch des Rezitativs plötzlich zu unterbrechen und mit dieser starren staccato [...] ich wage nicht, ich wage nicht, laut zu sein, ich wage nicht, den Mund zu öffnen, sonst ist dieses Wachtraumgesicht verschwunden. Geh nicht weg, bleib da! ›Ist es nicht er, der [...].‹ [Felsenstein flüstert den Arienbeginn, vom Korr. begleitet].«229
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ebd., S. 42

Der dramatisch wesentliche Gedanke Felsensteins besteht darin, das accompagnato als ein Bekenntnis Violettas gegen ihre nun ehemaligen Freunde aufzufassen. Wie gelangt Felsenstein zu dieser Ansicht?

Ausgangspunkt seiner Analyse ist – neben der beachteten Stückhandlung insgesamt – das direkt vorhergehende Chorstück, der sogenannte Aurora-Chor. Nachdem Violetta und Alfred sich im Duett ihre Liebe gestanden haben – Felsenstein fasst die Kadenz als ein »Symbol eines Liebesaktes«230

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ebd., S. 35
auf – werden sie von der feiernden Gesellschaft, die Violetta wieder beim Fest dabei haben will, gestört. In einem kurzen äußerst zärtlichen Dialog verabreden sich die beiden für den nächsten Tag. In diese poetische und zärtliche Atmosphäre bricht im fortissimo mit diesem Chor die feiernde Gesellschaft herein. Der Chor bildet die stretta der Introduktionsszene. Er ist musikalisch lapidar aufgebaut: nach achttaktiger Einleitung durch das Festthema in As-dur, folgen acht Takte in der Tonika-Parallele, dann ein sechzehntaktiger durch die ansteigende Chromatik und das staccato charakterisierter Teil, der in As-Dur endet. Ihm folgen fünfzehn Takte in fortissimo, die durch ihre betreffenden Lautstärke schon eine lärmende Schlusswirkung aufweisen. Daran schließt sich eine zwölftaktige ›Coda‹ an, der ein zwölftaktiges Nachspiel wiederum mit dem Festthema folgt. Der Chor evoziert eine berauschte, exzessive, fast bacchantische Szene, die musikalisch wesentlich durch das hier stupide Mittel des chromatischen Anstiegs bestimmt ist. Diese gewissermaßen substanzlose Steigerung charakterisiert treffend eine nach immer größeren Sensationen lechzende Gesellschaft.

Felsenstein räumt ein, dass sich eine Pariser Lebewelt so nicht benimmt. Die extremen musikalischen Mittel, die Verdi verwendet, veranlassen Felsenstein zu folgender Erklärung:

»Sie [die Pariser Gesellschaft] würde weder so singen, noch sich so benehmen, da sie eben bessere Manieren haben und etwas ästhetisch sind, er [Verdi] sieht es aus dem Blickwinkel einer bereits verwandelten Violetta. Wahrscheinlich müsste man dieses Stück, diesen Chor, ganz anders komponieren, um ihn dem Publikum vorzuführen. Er wird aber hier nicht dem Publikum vorgeführt, sondern es wird hier der Violetta vorgeführt. Es wird uns vorgeführt, wie Violetta jetzt die Welt, zu der sie bis jetzt gehört hat, sieht. Verzerrt, wie in einem Traum, grotesk, phantastisch, schauerlich.«231

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ebd., S. 38

Angesichts dieses fast traumatischen Erlebnisses, die eben noch als Freunde bezeichnete Pariser Lebewelt mit den Augen einer Frau, die gerade ihr Herz entdeckte, zu sehen, singt Violetta den Beginn des accompagnato »Wie seltsam«. Violetta drückt


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