- 148 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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markiert überzeugend und psychologisch klar den Übergang, der sich in Violetta vollzieht:

»Ich habe nichts anderes gewollt und will auch nichts anderes, als diesen Provincial in Paris tanzen zu lassen auf meinem Tisch. Vielleicht auch noch woanders, mal sehen, ich brauche den Sieg über diesen jungen Mann, um ihn den anderen zu demonstrieren, was anderes will ich nicht. Was jetzt geschieht, ist etwas gänzlich anderes und gegen meine Absicht und ohne mein Wissen. Wenn das nicht zum Ausdruck kommen kann oder eine Darstellerin das nicht fertig bringt, dann ist das ganze Stück überflüssig. Es geschieht mit ihr etwas, woran sie schuld ist, womit sie begonnen hat, aber was sie nicht beabsichtigt hatte.«223

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Transkription, S. 22

Den für Violetta neuen Gefühlszustand, sich bedingungslos einem Gefühl hinzugeben und nicht berechnend von der Zuneigung der Männer zu leben, entwickelt Felsenstein folgerichtig aus Violettas Ausgangspunkt, ihrem Machtstreben und gleichzeitig ihrer Existenzgrundlage, die erste Kurtisane von Paris zu sein. In der erfolgreichen Verführung des naiven Alfred beginnt, ohne dass sie sich dessen bewusst ist, ihr erstes Erleben der Liebe.224

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Felsensteins Untertext für Violetta lautet folgendermaßen: »[. . . ] er verliebt sich ganz dumm oder direkt feige und unanständig in dem Stück, es ist gar kein Mann, wenn ich fünfzehn oder zwanzig Jahre im Liebesberuf zugebracht habe, ohne die Liebe erfahren zu haben, so müsste ich mir einen anderen aussuchen, als gerade den. Aber das ist ja nun nichts zu ändern daran und es geschieht auch gegen meinen Willen, aber es ist das, was ich nicht kenne. Es ist das, was ich auch nicht dulden kann, denn, wenn mein Beruf ist, über Liebe zu regieren, mit der Liebe meine Existenz zu schaffen und mit der Liebe Macht auszuüben, so kann ich mir nicht leisten, einem Liebesgefühl unterlegen zu sein. Das ist einfach unstatthaft. Aber so weit ist sie jetzt noch nicht.« Und weiter sagt Felsenstein über Violetta: »Jetzt ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Gefühl unterlegen und in diesem Gefühl ist sie hemmungslos, ohne es zu wissen, schamlos.« Ebd., S. 22
Erst dadurch sind die Bedingungen für Violettas tragischen Konflikt geschaffen. Ein der Musik entnommenes Indiz für diese Interpretation besteht darin, dass sie Alfred unterbricht und die 2. Strophe des Trinkliedes singt, mit der gleichen Dynamik und somit ebenso erregt, aber natürlich noch einem anderen Bewusstsein von der Situation: Während sie denkt, einen Triumph einzufahren, rührt sich ein neues, ihr fremdes Gefühl. Durch diese Annahme erhält der Wechselgesang mit Alfred im Mittelteil der 3. Strophe Bedeutung:

»›Das Leben ist nur Taumel‹ sagt Violetta. Sie ist im Taumel, aber sie sagt das zu Alfred, ohne ihn anzuschauen. Zu Alfred! Warum? Weil sie von Alfred unbewusst hören will, dass es nicht nur Taumel ist. Prompt kommt auch ›Nicht dann, wenn Liebe es segnet!‹ – (Violetta:) ›Mir ist sie nie begegnet.‹ – (Alfred:) ›Mein Schicksal hängt an ihr!‹ Und das sind zwei verschlüsselte Sätze.«225

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ebd., S. 24

Ein diffuser Wunsch nach Liebe wird innerhalb ihres Spieles mit Alfred wach, der sich an der Ernsthaftigkeit, mit der er seine Liebe zu ihr vorträgt, entzündet. Violettas Wandlung begründet sowohl den Aufbau des Trinklieds, als auch den weiteren Aktverlauf.


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