- 114 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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finden glaubt. Vom Grundelement des Theaters, dem Menschen nämlich zu abstrahieren, würde für Felsenstein bedeuten, sich schlechthin im Gegensatz zum Theater zu befinden.135
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»Wenn man abstrahieren will, kann man keine Menschen dazu nehmen. Der Mensch ist eine Realität. Verwende ich ihn als Abstraktion, setze ich einfach seine Materie falsch ein.« Felsenstein, Schriften, S. 374

Daraus, dass Menschen auf der Bühne stehen, deren Gesang Ausdruck menschlicher Vorgänge sein soll, zieht Felsenstein zwei Konsequenzen, eine ausgesprochen theaterpraktische und eine den auf dem Theater darzustellenden Gegenstand betreffende. Die theaterpraktische Konsequenz besteht darin, dass er, weil er mit Menschen arbeitet, deren reale Existenz als singende Darsteller zu beachten hat. Er geht davon aus, dass ein solches Theater mit menschlichen Darstellern als Material am Besten menschliches Handeln und Sein zur Darstellung bringen könne. Die zweite Konsequenz bezieht sich darauf, dass, wenn Theater die unmittelbare innere Anteilnahme der Zuschauer zum Zweck hat, seine Gegenstände dem zu entsprechen hätten. Menschliches Handeln muss verständlich und glaubwürdig dargestellt werden.

Von dieser Position aus kritisiert Felsenstein abstrakte Darstellungsformen:

»Ich betrachte auf dem Theater Musik als die höchstmögliche Aussage. Dabei muß man allerdings von vornherein anerkennen, daß Gesang auf der Bühne ausschließlich eine menschliche Äußerung ist. Es kann natürlich ästhetisch zauberhaft sein, daß sich die Darsteller wie Figurinen, wie singende Puppen, quasi als Instrumente manifestieren; aber ich behaupte, auf der Opernbühne hat ein singender Mensch zu stehen.«136

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Felsenstein, Schriften, S. 374

Auf der anderen Seite wandte sich Felsenstein ebenso gegen die Anforderungen des Naturalismus:

»Man darf realistisches Musiktheater nicht verwechseln mit irgendeiner Form des Naturalismus. Denn Musiktheater als solches ist bereits in einem bestimmten Sinne irreal. Unter realistisch verstehe ich die Realität, die Wirklichkeit der Darstellung, die Wirklichkeit eines Inhalts.«137

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Felsenstein, Schriften, S. 475

Felsenstein äußert hier nicht den banalen Gedanken, weil dort gesungen wird, unterscheide sich Musiktheater von Naturalismus, sondern stellt Überlegungen zum Musiktheater als klassischer Kunstform an. Wenn es eine glaubhafte Darstellung bezweckt, verlangt das Musikalische am Musiktheater Handlungen, die sich von Alltäglichkeiten entfernt haben, also den Alltag übersteigende Handlungen. Um den Zuschauer zu erreichen, ihn zur Anteilnahme zu bewegen, müssen die Handlungen


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