- 108 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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unterstellt eine Identität, die nicht derjenigen Figur angehört, die ansonsten handelt. Zumindest tendenziell verfügen alle Figuren über eine zweite Ebene, in der sie sich jedoch nicht ständig bewegen. Zwar wird auch jene Ebene, die die Künstlichkeit ihrer Existenz als Bühnenfigur ausmacht, einfühlend dargestellt, jedoch lässt sich diese Eigenschaft der Figuren nicht bruchlos aus der ersten Ebene der Blaubart-Welt entwickeln.

Auch wenn sie dabei nie aufhört, Boulotte zu sein, ihr Ausstieg aus der Blaubart-Operette bedeutet einen Bruch. Psychologischer Anlass für die Handlungsunterbrechung ist zwar gerade ihre, Boulottes, Betroffenheit. Mit der Weiterführung des Gedankens, der Erkenntnis ›Die Großen haben wieder recht‹, wendet sie sich dem Publikum zu und unterbricht das Spiel. Dieser szenische Vorgang stellt klar, dass die Erfahrungen der Boulotte ihrer Natur zutiefst widersprechen. Boulotte kann in diesem Stück eigentlich nicht mehr mitspielen. Sie gelangte durch die gemachten Erlebnisse und v.a. durch das Urteil darüber in einen Zustand, der die Identität der ›Operetten‹-Figur bersten lässt.

Auch ihr Satz an das Publikum verdankt sich, wie schon alle anderen vorher von Felsenstein eingesetzten ›anti-illusionistischen Mittel‹, nicht einer Theaterästhetik, die durch kommentierende Verfremdung Erkenntnisse über die Welt beim Zuschauer hervorzubringen bezweckt. Hier kommentiert nicht ein Schauspieler seine Figur. Die ästhetische Konstruktion unterscheidet sich grundlegend von Brechts verfremdender Darstellung, denn während Verfremdung die Identität der Figur unterbricht, damit Theater seine aufklärerische Wirkung entfalten kann, hält Felsenstein die Figur mit äußerster Konsequenz durch, bis sie auf die Grenzen des Theaters verweist. Angesichts der Erkenntnis über ihr eigenes Schicksal muss Boulotte das happy-end der Operette verweigern.

Dass Felsenstein damit nicht eine Beschränktheit der Form der Operette meint, spricht er sogar aus, wenn er über Boulottes Lösungsvorschlag schreibt:

»›Nur im Theater gäb es eine Lösung...‹ ist nur ein Ventil für ihre Bitterkeit, nicht im entferntesten ein echter Vorschlag. Daß Bobèche zum Entzücken der Hofgesellschaft darauf einsteigt, macht sie fassungslos.«119

119
ebd.

Das Aussteigen Boulottes aus ihrer Rolle beinhaltet eine Reflexion über die Leistung des Theaters. Angesichts der Faktizität der Macht der Großen, die das Publikum besser kennt als alle anderen Spielfiguren im Blaubart, weiß das Theater keine Lösung außer der, Theater zu spielen. Realer Macht ist mit Theater nicht beizukommen – Theater ist sqVentil für Bitterkeit. Konsequent mündet Felsensteins Aufführung im happy-end, das durch die Stellung Boulottes dazu ironisch gebrochen wird. Es ist selbstverständlich die Parodie auf den gut ausgehenden Schluss (»Boulotte wendet sich ab und nimmt an der Albernheit nicht teil«.120

120
ebd.
) Parodiert wird mit der Unglaubwürdigkeit des happy-ends nicht die Unangemessenheit der Kunstform der Operette gegenüber der Wirklichkeit. Die Parodie auf den glücklichen Ausgang bezieht sich auf die Machtlosigkeit der Kunst und der Menschen gegenüber der Faktizität realer politischer Macht. Auf der Basis der grundlegenden Erfahrung des Zuschauers, dass in der wirklichen Welt meistens wenig gut ausgeht,

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