- 101 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (100)Nächste Seite (102) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

gar unmöglich. Je parodistischer überzeichnet wird, um so distanzierter betrachtet der Zuschauer die Bühnenfigur. Genau diesen scheinbaren Widerspruch beabsichtigt Felsenstein, er zielt ab auf eine ganz bestimmte Zuschauerhaltung, die beide Pole beinhaltet.

Felsenstein unterscheidet in diesem Kontext zwei Bereiche theatralischer Ironie:

»erstens einen, den das Publikum selbst sofort zu durchschauen vermag, und einen zweiten, bei dem es in den Erlebnisbann des Geschehens gezogen wird, so daß es sich aus ihm erst wieder lösen muss.«111

111
ebd.

Felsenstein bezieht seine Feststellung selbstverständlich auf das Mittel der Ironie, das den Zuschauer aus dem Erlebnisbann des Geschehens löst, was das ›erst‹ erklärt. Denn erst dann, wenn Ironie die identifizierende Anteilnahme des Zuschauers gebrochen hat, kann sie das ›erkennend-distanzierende Vergnügen‹ schaffen. Eine Darstellungsweise, die zu ihrem Prinzip erhebt, zwischen der bewusst eingesetzten Künstlichkeit der Bühnenwelt und ihrer theatralischen Erlebbarkeit ›in der Einheit von Darsteller und Publikum‹, was nach Felsenstein das Wesen des ›echten Theatererlebnisses‹ ausmacht, zu changieren, konstituiert eine zwischen Anteilnahme und Reflexion oszillierende Rezeption durch den Zuschauer.

Im Weiteren sollen anhand einiger beispielhafter Szenen Formen der Ironie, die jenes Oszillieren verdeutlichen, daraufhin analysiert werden. Dabei wird deutlich, dass der ›Ulk‹112

112
So nennt im ›Blaubart‹-Film einer der Bühnenarbeiter im Filmstudio der Rahmenhandlung das zu filmende Stück.
sich keineswegs in harmlosem Spaß erschöpft, sondern konsequent eine Intention verfolgt, die nicht zuletzt an der Ästhetik der Darstellungsweise und ihren Konsequenzen für die Dramaturgie des Stückes deutlich wird. Felsenstein spielt im I. Akt mit der Konstruiertheit von Figuren und Handlung. Harmlose Schäfer-Idyll-Parodie in bewusst opernkitschiger Dekoration, fliegende Schmetterlinge und ein (!) Baum zeigen die Natur- und Dorfidylle an. Im Bild am Hofe Bobèches werden die Überzeichnungen zunehmend drastischer.113
113
Dementsprechend schildert Dieter Kranz, er »habe Streitgespräche zwischen den Zuschauern gehört, in denen die Meinung aufkam, die Figur des Königs sei satirisch überzeichnet«. Vgl. Felsenstein, Schriften, S. 377
Bemerkenswert erscheint, dass die dortigen Vorgänge an Glaubwürdigkeit keineswegs abnehmen, sondern im Gegenteil den Zuschauer eher mehr in ihren Bann schlagen als die Harmlosigkeiten des I. Aktes. Trotz bizarrster Handlungen Blaubarts nimmt die Ernsthaftigkeit der Vorgänge in Blaubarts Burg dann noch zu, nicht zuletzt dadurch, dass über das wahre Schicksal der vermeintlich ermordeten Frauen keine Klarheit besteht.114
114
»Daß den Autoren daran gelegen war, das Publikum so lange wie möglich an den Tod der Blaubart- und Bobèche-Opfer glauben zu lassen, geht aus der Handlungsführung hervor.« In: Kobán, Ilse (Hrsg.): Walter Felsenstein – Theater muss immer etwas Totales sein, Berlin: Henschelverlag, 1986, S. 339
Im letzten Finale dann werden Glaubwürdigkeit und Parodie – wie zu zeigen sein wird – in einem Maße, das die Operettendramaturgie bersten lässt, aufeinander bezogen und dadurch auf die Spitze getrieben.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (100)Nächste Seite (102) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 101 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch