- 94 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Erwarteten, die durch das G-Dur des Folgetaktes gesteigert wird. Bei der dritten Wiederkehr dieses Motivs in der fünften Strophe (Takt 63f.) wird die Septime a nun mit einem übermäßigen Akkord cis-f-a über dem Baßton F harmonisiert. Das folgende Signal wendet sich nach b-Moll, der Zielton b erhält einen Fis-Dur-Akkord, der sich als Ges-Dur verstehen läßt, wiederum im nächsten Takt gefolgt von G-Dur. Wenn auch das permanente Variieren ein Grundprinzip des Mahlerschen Komponierens ist, wie Adorno es an den Erscheinungsformen der Gegenstrophen festgemacht hat66
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Adorno, Mahler, S. 116, 145.
, so ist doch die zunehmende Verfälschung der Militäridiome hier als musikalisch-semantisches Kennzeichen von Mahlers Aussageintention zu sehen. Am Ende jeder Schildwachen-Strophe erscheint das Signal unverfremdet jeweils in D-Dur, in der ersten Strophe instrumental, in der dritten zum Text »Bin ich gestellt«, in der fünften zunächst wieder insrumental zu und nach »Er führt den Krieg« und dann mit den Worten »Bleib mir vom Leib«. Während der Schlußton aber noch ausgehalten wird, erscheint instrumental das Überleitungsmotiv zur Gegenstrophe, das das gerade fixierte D-Dur wieder in Frage stellt. Bei dem Signal-Motiv des aufsteigenden Dreiklangs handelt es sich im übrigen um ein reales Signal der österreichischen Armee, das »Hab Acht!« bedeutet.67
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Exercir-Reglement für die kaiserlich-königlichen Fußtruppen, Wien 1874, S. 253. Vgl. auch Erich W. Partsch, Anmerkungen zu einem Signalmotiv in »Der Schildwache Nachtlied«, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 27 (1992), S. 7–9.
Bei Mahler dürfte es jedoch die Militärsphäre im allgemeinen wiedergeben und nicht diese spezifische Signifikanz, denn es ist nur schwer vorstellbar, daß er mit dem K.u.k. Exercir-Reglement für Fußtruppen in der Hand komponierte, in dem dieses Signal zu finden ist. Allerdings darf man die Bekanntheit von Militärsignalen zu Mahlers Zeit nicht unterschätzen: Paul Stefan weist in seiner Mahler-Biographie von 1910 darauf hin, daß das Scherzo der Dritten Symphonie das österreichische Militärsignal »Abblasen« enthalte.68
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Paul Stefan, Gustav Mahler, München 1910, S. 95.

Ein weiteres Moment der Verfremdung tritt in den Takten vier bis sechs in den Bässen auf, die den halbtaktig-marschartigen Auftakt hier in Quintparallelen vorführen. Dieses Quintparallelen-Motiv wird in der dritten Strophe in dem Marsch zu den Worten »Zum Waffengarten voll Helleparten« (Takt 34–36) wieder aufgegriffen. Weitere parallel verschobenen Quint-Oktavklänge finden sich in den Takten 78 bis 80 unter der lang ausgehaltenen Antwort »Rund’!« seiner Kameraden. Solche Erscheinungen wurden um die Jahrhundertwende als etwas Fremdartiges durchaus wahrgenommen. Der Hamburger Kritiker Joseph Sittard beklagte sich 1892 in einer Konzertkritik über Quintparallelen in Nicht wiedersehen! zu den Worten »dann komm’ ich wieder« und »Ade«; sie »gehören nicht zu jenen, die man aus ästhetischen Gesichtspunkten oder aus Gründen der musikalischen Charakteristik etwa erklären könnte«69

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Im Hamburgischen Correspondent vom 30.4.1892, zitiert im Vorwort der Kritischen Gesamtausgabe Band XIII Teilband 2a, S. V.
. Der Rezensent hat allerdings nicht bemerkt, daß diese Quintparallelen auch hier das Falsche der Aussage übermitteln, denn der Knabe und seine Liebste werden sich tatsächlich nicht wiedersehen. Diese Setzweise ist also durchaus mit musikalischer Charakteristik zu begründen. Im ersten Fall handelt es sich übrigens gar nicht um echte Quintparallelen, sondern um Quint-Oktavklänge, die parallel verschoben werden, wozu aber im Baß die Terz erscheint.

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