- 93 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Doppelpunkt, was besagt, daß der nachfolgende Satz die Konsequenz aus dem vorherigen und daß der Sprechende identisch ist. In dieser Weise findet es sich bei Mahler, und ebenso bei Theodor Streicher, der die Wunderhorn-Vorlage gänzlich unangetastet belassen hat. Die etwas unklar bleibende Schlußszene ist also so zu verstehen, daß die Schildwache, die, während sie ihr Lied singt, aufgeschreckt wird und fragt: »Halt! Wer da !?« Das Fragezeichen findet sich allerdings nur in der Klavierfassung, nicht in der Orchesterfassung. Mahlers Niederschrift und der Abdruck der Gesangstexte sind allerdings bei den Orchesterfassungen weniger sorgfältig als bei den Klavierfassungen, wie es im Vorwort der Gesamtausgabe heißt.64
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Band XIV, Teilband 2, S. XIV.
Die Ausführungsanweisung für die Singstimme lautet an dieser Stelle »Den Ruf der Schildwachen nachahmen« (Takt 75), allerdings nur in der Orchesterfassung; offenbar war dieser Ruf zu Mahlers Zeit also bekannt. Mit der Antwort »Rund« identifizieren sich die Kameraden der Schildwache, die ihren Rundgang machen. Der heute nicht mehr bekannte Begriff bezeichnet nach Grimms Deutschem Wörterbuch den »Rundgang einer oder mehrerer damit beauftragter Militärpersonen zur Prüfung der Wachen und Posten«65
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Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 8, Leipzig 1893, Sp. 1508f.
. Die Schildwache will nichts mit ihnen zu tun haben und ruft »Bleib mir vom Leib!«. Anschließend wird er sich, in die Traumebene zurücksinkend, über diesen Traum bewußt.

Der Befund, daß Theodor Streicher die Soldatenthematik in seinen Liedern eher in den Hintergrund drängt und darin einen Gegensatz zu Mahler bildet, läßt sich auch an den Vertonungen selbst festmachen. Bei Streicher tauchen musikalische Militäridiome nur am Schluß in den Takten 34–38 und 42–46 auf, und zwar in Form vereinzelter Marschrhythmen, eines einmaligen Signals, das mit demjenigen Mahlers große Ähnlichkeit hat, und mit wenigen Trommelwirbeln. Allenfalls noch zum Text »Stehst du im Feld« (Takt 22f.) läßt sich ein Trommelstreich in den Bässen ausmachen. Mahlers Lied dagegen ist vom Anfang bis zum Schluß mit Militärklängen durchsetzt. Alle drei typischen Merkmale finden Verwendung: der Marschrhythmus, der Trommelwirbel und das Signal. In erster Linie bestimmen sie die Strophen der Schildwache in den Takten 1–9, 31–41 und 63–91. Aber auch in der letzten Gegenstrophe taucht die Fanfare bei »Sang es zur Stund’?« (Takt 95) und »sang es um Mit-[ternacht!]« (Takt 99) auf. Diese Idiome herrschen also in 51 von 107 Takten vor.

Vor allem das Signalmotiv erfährt dabei permanent Verfremdungen. Schon gleich im ersten Takt wird der aufsteigende Dreiklang B-Dur nicht wie erwartet mit der Oktave abgeschlossen, sondern mit der großen Septime, die folgerichtig mit der Dominante F-Dur harmonisiert wird. Im Folgetakt ist das Signal richtig gespielt, aber mit g-Moll falsch harmonisiert. Die melodisch identische Parallelstelle in der dritten Strophe (Takt 31f.) verstärkt diese Verfremdung harmonisch: Die Septime wird nun mit D-Dur harmonisiert, was nach B-Dur durch den Querstand f-fis falsch klingt, auch wenn es – nur – die Dominante der Parallele ist. Das nachfolgende »richtige« Signal kehrt abrupt nach B-Dur zurück, der Zielton b wird nun nicht mit B-Dur, sondern mit Ges-Dur unterlegt, wiederum eine Mißachtung des


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