- 7 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Problematisches in sich, vor allem hinsichtlich der Idee, der Künstler ahne Entwicklungen voraus. Es soll nicht bestritten werden, daß es solche Visionen gibt – Adorno wies in diesem Zusammenhang auf einen Bezug Mahlers zur frühexpressionistischen Vorkriegs-Lyrik hin, in der sich Vorahnungen des Ersten Weltkrieges entdecken ließen28
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Th. W. Adorno, Zu einem Streitgespräch über Mahler, in: Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag, Kassel 1968, S. 124.
. Aber bei der Lyrik handelt es sich um wortsprachliche Dokumente, die sich konkreter verstehen lassen als wortlose Musik. Um jenen Vorahnungen im Falle Mahlers einen gewissen Grad an Plausibilität zukommen zu lassen, müßten sie sich nicht nur in »tönenden Symbolen«, sondern auch in verbalen Äußerungen kundgetan haben. Und genau das ist nicht der Fall: Im Gegensatz zu den meisten anderen Symphonien fehlt gerade bei der Sechsten fast jeglicher Verständnishinweis Mahlers; es gibt weder Text noch Programm. Auf der anderen Seite geben die wenigen Zeugnisse, in denen Mahler über Politik sprach, auf den ersten Blick kaum genug Stoff her, um eine politische Ausrichtung seiner Musik plausibel erscheinen zu lassen.

Von hier aus tut sich eine Diskrepanz auf zwischen der Intensität und Vehemenz, mit der die drei Mahler-Forscher ihre Position behaupteten, und der marginalen Rolle, die sie im Mahler-Bild der Gegenwart spielt. Hier soll die vorliegende Untersuchung ansetzen: Sie soll zum einen die Interpretationskonstante an der Sache selbst messen, das heißt an Mahler, an seinem Werk und an seiner Ästhetik, die zwischen ihm und dem Werk vermittelt. Sie soll zum anderen die geschichtliche Entwicklung dieser Interpretation in ihrem Entstehen und Werden parallel zu den politischen Veränderungen verfolgen.

An erster Stelle steht der Produzent – Mahler – in seinen Erfahrungen mit politischen Konflikten und in seinen Grundhaltungen zu Politik und Gesellschaft. Der weitere Blick richtet sich auf Mahlers eigene ästhetische Konzeption seiner Musik, wie sie sich in seinen eigenen Worten, vor allem in seinen Briefen, kundgibt. An zweiter Stelle steht das Produkt – die Sechste Symphonie und einige Wunderhorn-Lieder. Hier ist zu untersuchen, welche ihrer Merkmale auf die Sphäre von Krieg und Zusammenbruch hinweisen. Den Ausgang nimmt die Untersuchung bei den Positionen der drei genannten Interpretationen einerseits und bei der Soldatenthematik in den Wunderhorn-Liedern andererseits. An dritter Stelle wendet sich die Untersuchung dem Verstehen des Produktes zu. Im Zentrum steht nun die Geschichte und Vorgeschichte jener Interpretationskonstante, die Verfolgung ihrer Spuren bis in Mahlers Zeit hinein. Gefragt wird, ob und inwieweit man nicht nur von einer Konstante der fünfziger und sechziger Jahre, sondern von einer Konstante der Mahler-Rezeption schlechthin sprechen kann, ob also schon vor dem Eintreten der Katastrophen des Jahrhunderts solche in Mahlers Musik wahrgenommen wurden. Thematisiert werden muß unter dieser Fragestellung zunächst die Problematik der Vorahnung des Künstlers schlechthin. Inwieweit kann man davon sprechen, daß sich dem Künstler die Möglichkeit eröffnet, zukünftige Entwicklungen im künstlerischen Schaffensprozess vorauszuahnen? Bei der darauf folgenden Untersuchung der Wortdokumente zu Mahlers Musik wird terminologisch zwischen Interpretationen und Rezeptionen unterschieden. Als Interpretation wird dabei der bewußte Versuch verstanden, die Musik Mahlers in eigenen Büchern oder Artikeln zu deuten. Untersucht


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