veröffentlichten sogenannte »Listen der Schande«.113 Das erklärt, warum Mahler an einer Vorverlegung seiner Taufe festhielt. Wien hatte 1895 als erste europäische Hauptstadt einen antisemitsch geführten Gemeinderat gewählt. Der unter dem Anführer der Christsozialen Partei Karl Lueger betriebene Antisemitismus schlug in Wien höhere Wellen als in anderen Großstädten Europas.114 Auch das schätzte Mahler richtig ein und schloß sich den Abtrünnigen der jüdischen Religion an, deren Rate in Wien 1900 höher lag als in allen anderen Städten der Doppelmonarchie und Europas.115 Seine Berufung an die Hofoper ist dadurch zu erklären, daß der Hof, allem voran Franz-Joseph I. selbst, den neuen Antisemitismus verabscheute und sogar recht philosemitisch eingestellt war.116 Er hatte die Bestätigung des gewählten Bürgermeisters Lueger zunächst abgelehnt und war ihr nur auf Druck der Straße nachgekommen. Auch von dieser Einstellung des Hofes wußte Mahler, wie sein – oben zitierter – Brief an Ödön von Michalovich vom 25. Januar 1897 bestätigt. Durch den wachsenden gesellschaftlichen Antisemitismus in Wien verlor das Diktum Heines an Bedeutung: Das Taufwasser konnte weniger und weniger den Makel der jüdischen Geburt wegwaschen; trotz der Konversion blieben die Konvertiten im öffentlichen Bewußtsein Juden117 , was Mahler ebenfalls keineswegs entging. Die Anzahl der Juden in Wien war von ein paar tausend im Jahre 1848 auf 175.000 im Jahre 1910 angestiegen; sie bildeten damit 8,6 % der Gesamtbevölkerung. Es hatte drei Einwanderungswellen von Juden in Wien gegeben: Die erste kam aus den Ländern der böhmischen Krone, wozu auch Mahler gehörte, die zweite aus Ungarn und die dritte aus den östlichen Kronländern, Galizien und der Bukowina.118 Peter Pulzer, Liberalismus, Antisemitismus und Juden, in: Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, hg. v. P. Berner, E. Brix und W. Mantl, München 1986, S. 35f. |
Das Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. 1881 wurde den »jüdischen Revolutionären« angelastet, worauf Pogrome gegen die Juden erlassen wurden, die eine Massenflucht der russischen Juden Richtung Westen zur Folge hatte.119 Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1996, S. 473. |
Unter den Wiener jüdischen Intellektuellen zeigte sich allgemein ein Anti-Ostjuden-Denken,120 Monika Glettler, Urbanisierung und Nationalitätenproblem, in: Wien um 1900, a.a.O. S. 188. |
das sich ebenso bei Mahler, provoziert durch Alma, widerspiegelt. Die Ostjuden fielen im Wiener Stadtbild durch ihre traditionelle jüdische Kleidung und durch ihre Schläfenlocken auf und setzten sich schon dadurch von den assimilierten »Westjuden« ab. Auch ihre Sprache – Jiddisch, Polnisch und Russisch – unterschied sie von den angestammten Wiener Juden.121 In Wien empfand man die jüdischen Einwanderungsströme zunehmend als Bedrohung. Im Zarenreich lebten mehr als fünf Millionen Juden, im gesamten Habsburger Reich nur 2 Millionen, davon knapp 200.000 in Wien, die übrigen weitgehend in den östlichen Teilen des Reiches. Im gesamten deutschen Reich zählte man weniger als 600.000 Juden.122 Die Möglichkeit einer Überflutung durch jüdische Einwanderer sah man vor Augen. Aber es gab weitere Facetten einer in Wien empfundenen
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