- 290 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Man stellt bei einer neuen Orchesterkomposition nicht mehr die Frage, ob sie der Gattung Symphonische Dichtung oder Programmusik angehöre. Nimmt man doch an, daß jedem größeren Musikwerke ein poetischer Gedanke zu Grunde liegt, daß sich eine Handlung, eine Stimmung, eine Persönlichkeit in ihm darstelle. Wobei es denn nicht ausgeschlossen bleibt, daß es immer noch eine Musikgattung gibt, die nur bewegte Formen, nur ein gefälliges Spiel mit Tönen darstellt. – Wer die neue Mahlersche Symphonie hört, der fühlt bei jeder Phrase, daß der Tonsetzer ihm da etwas Bestimmtes zu sagen hat, versteht ihn aber nicht, d. h. kann seine Musik nicht deuten oder deutet sie falsch, da dieser Künstler es liebt, seine Hörer im unklaren darüber zu lassen, auf welchem Gebiete er sich mit seiner deutungsreichen Tonsprache bewegt. [B06/G]

So lange für das Werk kein Kommentar geboten wird, ist der Zuhörer völlig ratlos, und wenn auch der Gedankengang erläutert werden würde, so fürchte ich doch, daß wir uns nicht viel mehr erwärmen können. [B06/L]

und endlich muß die Symphonie als absolute Musik, als die der Komponist sie angesehen wissen will, aufs bestimmteste abgelehnt werden. [M06/D]

Mahler hat sich mit seinem jüngsten Werke aufs neue von aller Programmmusik [sic] losgesagt und sich auf die alte klassische Symphonieform mit vier Sätzen beschränkt. [. . . ] mit seiner Instrumentation begibt sich Mahler mitten in das Gebiet einer soviel wie nur irgend möglich naturalistischen Programmmusik [sic]. Doch davon weiter unten. [. . . ]

Greifen wir als immerhin häufig angewandt die Heerdenglocken heraus, die ja, ausgenommen im Scherzo, in jedem Satze wiederkehren, und weit öfter ertönen als z. B. Holzkapper, Rute oder Hammer. Was sollen diese hinter der Szene zu »spielenden« Heerdenglocken [sic] in einer Musik, die nicht Programm- oder Opernmusik geben will, die also nicht »Milieu« und bestimmte Vorgänge oder Zustände schildern will? Man braucht durchaus kein Rückschrittler oder Philister zu sein, wenn man diesen der höheren Kunstübung bisher fremden Instrumenten sein besonderes Interesse zuwendet und gerade aus ihrer Einführung und Verwendung Rückschlüsse auf die ganze Art künstlerischen Schaffens zieht. Ein Kommentator bringt besagte Heerdenglocken in Zusammenhang mit »hoher (!), reiner Luft und wundervoller Einsamkeit«. Es liegt also folgende Ideenassoziation vor: Heerdenglocken – einsame, dem Grossstadtgewühle [sic] ferne Triften, wo, von allen Lügen der Kulturmenschheit unbeleckt, das Vieh weidet. Gut, lassen wir das gelten, obwohl die andere Assoziation mit Kuhstall usw. mindestens ebenso naheliegt. Der Komponist will also im Hörer da Gefühl weltentrückter Einsamkeit wachrufen, hat selbst solche Gefühle, in oben geschilderter Umgebung sich auslösend, an sich beobachtet. Solche Gefühle glaubt er nun durch kleinliche Nachahmung äusserer Zufälligkeiten in anderen erwecken zu können. Das ist denn doch oberflächlichster, krassester Naturalismus; ja, am liebsten würde man in diesem Zusammenhange von Profanierung der Kunst sprechen. Anstatt sich zu bemühen, die Gefühle, die den dafür Empfänglichen in jener schaurig-erhabenen Einsamkeit, die beispielsweise im »Zarathustra« so unvergleichlich poetisch geschildert ist überkommen, anstatt sich zu bemühen, solche Gefühle in Musik zu fassen und möglichst »adäquat« auszudrücken, glaubt der Tonsetzer seiner Kunst genug zu tun, wenn er durch sie die äussere Wirklichkeit laienhaft zu photographieren sucht. Der höchste Grad naturalistischer Übertreibung, der in keiner anderen Kunstgattung, ausgenommen vielleicht die Schauspielkunst, in gleichem Masse möglich und ebenso unerquicklich ist. Nicht dazu ist die Kunst da, die Natur äusserlich, sklavisch nachzuahmen, zu photographieren und phonographieren, sondern durch Anwendung der jedem ihrer Zweige zukommenden Mittel im Geniessenden bestimmte Gefühlsvorgänge, die eben nur sie hervorbringen kann, wachzurufen. Und was darüber ist, ist von Übel. Nicht wie ein Tollhäusler rasen und schreien soll der Darsteller des Lear, sondern das Gefühlsleben eines durch Unglück an den Rand des Wahnsinns Gebrachten wiedergeben. – Mit diesen Betrachtungen steht und fällt nun die neueste Symphonie Mahler’s, wenn wir sie als Gesamtkunstwerk ansehen. Es ist diesen Erörterungen etwas mehr Raum gegeben worden, als ursprünglich in Aussicht genommen; aber es wird in der ganzen modernen Musikliteratur kaum ein zweites Werk geben, wo sich die naturalistischen Übertreibungen in ähnlich handgreiflicher Weise ad absurdum führen lassen. Dabei herrscht gerade über das symphonische Schaffen Mahler’s in weiteren Kreisen eine solche Unklarheit und Urteilslosigkeit, dass der Versuch, einige Klärung zu bringen, wohl angezeigt war. [M06/E]

Mahler lehnt es zwar, wie er auch in einer Probe energisch versicherte, durchaus ab, sein Werk irgendwie als Programmusik gedeutet zu sehen, indes wird er es nicht verhindern können, daß beispielsweise beim leisen Klang der Herdenglocken unwillkürlich assoziativ auf das Gebirgsleben

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