- 250 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Betrachtet man die Gegenüberstellung beider Auswertungen, so zeigt sich, daß die Kategorie Kraft, Trotz, Wucht im ersten Satz deutlich zurückgeht; Lärm und bizarr werden gar nicht mehr genannt. Die einzige Kategorie, die einen signifikanten Zuwachs verzeichnet, ist einsam, allein, was auch für die Symphonie insgesamt gilt.

Hieran wird ersichtlich, daß die Mahler-Literatur vor allem von Richard Specht und Paul Bekker deutlichen Einfluß auf die Inhalte der Rezensionen genommen hat. In den Rezensionen von 1906–07 ist von Einsamkeit noch kaum die Rede. 1913 war Richard Spechts Buch erschienen, in weiteren Auflagen nach dem Weltkrieg. Bekkers Buch kam im gleichen Berliner Verlag Schuster & Loeffler 1921 heraus. Die Idee der Einsamkeit spielt in beiden Darstellungen der Sechsten eine bedeutende Rolle.25

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Specht, Mahler (1913), S. 282, 293–295; (1918), S. 239f., 247f.; Bekker, Mahler, S. 208f.
Seit den Aufführungen in Wiesbaden und Hamburg im April und November 1921 ist davon in den Rezensionen vermehrt die Rede. Gleich in vier von sechs Hamburger Rezensionen wird diese Idee thematisiert [H21/B,C,D,F], bei der Wiesbadener Aufführung erscheint sie in zwei [Wb21/C,D] von vier allerdings sehr kurzen Besprechungen. Danach ist sie vermehrt vertreten: Ka24/A,B,C; F26/B; K27/B; D30/B; W33/B,F. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Rezensenten die verfügbare Mahler-Literatur bei ihren Rezensionen zur Orientierung herangezogen haben. Das ist nicht verwerflich im Sinne eines Abschreibens, sondern redlich und sogar verdienstvoll im Sinne einer adäquaten Vorbereitung auf das Konzert und einer Kenntnisnahme der wissenschaftlichen Literatur für die Abfassung der Rezension. Tatsächlich lassen sich Charakterisierungen, die in den Rezensionen vermehrt auftreten, auch in den Passagen zur Sechsten bei Specht26
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Specht, Mahler (1913), S. 282, 292–298; (1918) 239f., 247–249.
und Bekker27
27
Bekker, Mahler, S. 207–211.
finden. Die Rezensenten, bei denen sich Spuren der Spechtschen und Bekkerschen Darstellung finden, haben diese Ideen als akzeptable Deutungen übernommen, dabei ausgewählt und Ideen, die ihnen nicht adäquat erschienen, verworfen. In der Entscheidung, daß der Untergang ein privater, individueller ist und mit Mahlers Erfahrungen in Verbindung gebracht werden kann, sind sie nicht Specht sondern Bekker gefolgt. Bei ihm heißen die Sätze, mit denen er sich dezidiert gegen Specht wendet: »Nichts konnte ihm ferner liegen, als Verkündigung eines Weltunterganges, als künstlerische Gestaltung einer Vernichtungsbotschaft. [...] Die Tragik des Einzeldaseins, die Vorbestimmung zur Vernichtung, die Machtlosigkeit gegenüber dunklen, unfaßbaren Gewalten führt zum Untergang.«28
28
Bekker, Mahler, S. 208, 210.

Wie genau ein Kritiker das ihm Zusagende aus einem Buch herausfiltert, zeigt Julius Korngold in seiner Kritik von 1933: Für den niederdrückenden, niederschmetternden Schlußsatz findet Richard Specht, hier Apologet mit Kritik, ein treffendes Wort: »Ein trostloseres, hoffnungsleereres Weltbild hat kaum je ein Künstler gemalt.« Das Ringen mit dunklen Mächten führt zum Untergang, nicht, wie bei Beethoven, zum Siege...[W33/E]


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