II. Prädispositionen in der Biographie: Mahlers Berührungen mit der Politik seiner Zeit a. Erfahrung politischer Konflikte bis 1891: Nationalismus – Antisemitismus – Militarismus Iglau, die Stadt, in der Mahler aufwuchs, gehörte zum Kronland Böhmen innerhalb des Habsburger Vielvölkerstaates, lag aber innerhalb einer deutsch-mährischen Sprachinsel. Hier zeigten sich Konflikte auf drei Ebenen: zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Deutsch sprechenden Mähren und Tschechisch sprechenden Böhmen und zwischen der k. u. k. Monarchie und dem wachsenden tschechischen Nationalbewußtsein. Der sogenannte Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn teilte die Monarchie in zwei gleichberechtigte Reichshälften, die durch eine gemeinsame Außenpolitik und das gemeinsame Habsburger Herrscherhaus verbunden waren. Zu Zisleithanien gehörte Österreich, Galizien, Böhmen, Mähren, Bukowina und Dalmatien, zu Transleithanien zählte Ungarn, Siebenbürgen, Slowakei und Kroatien. Obwohl ein Artikel 19 allen Nationalitäten absolute Gleichberechtigung garantieren sollte, waren doch Böhmen, Polen, Ruthenen und Südslawen den nur 35 % Deutschen in Wien unterstellt, Slowaken, Rumänen, Serben und Kroaten unterstanden den 40 % Ungarn in Budapest1 Fischer Weltgeschichte, Bd. 27: Das bürgerliche Zeitalter, hg. v. Guy Palmade, Frankfurt/M 1974, S. 284f. |
. Der wachsende Drang dieser Völker nach politischer und kultureller Eigenständigkeit bildete ständige Konfliktherde. Mahler äußerte später einmal, er sei dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.2 Alma Mahler Werfel, Erinnerungen an Gustav Mahler; Gustav Mahler, Briefe an Alma Mahler, hg. v. Donald Mitchell, Frankfurt/M., Berlin 1971 [= Alma Mahler, Erinnerungen], S. 137. |
In Mahlers Jugendjahre fallen zwei große Kriege, der zwischen Preußen und Österreich 1866 und der zwischen Deutschland und Frankreich 1870; 1859 noch hatte Österreich in der Schlacht von Solferino die Lombardei verloren, 1866 mußte es den größten Teil von Venetien an das Königreich Italien abtreten. Natalie Bauer-Lechner überliefert eine Erzählung Mahlers, in der er seiner kindlichen Begeisterung für die Militärmusik der Garnisonsstadt Iglau Ausdruck gab.3 Herbert Kilian, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984 [= Bauer-Lechner, Erinnerungen], S. 70 |
Schon als Vierjähriger sei er der marschierenden Militärmusik hinterhergelaufen und habe deren Musik auf der Harmonika nachgespielt.4 Die Begeisterung Mahlers für die Militärmusik und die Soldatenlieder wird in vielen frühen Biographien thematisiert. (Richard Specht, Gustav Mahler, Berlin 1905, S. 19; Richard Specht, Gustav Mahler, Berlin und Leipzig 1913, S. 2, 164.) |
Der heranwachsende Mahler war von der Omnipräsenz des Militärischen in seiner Heimatstadt umgeben. Das bezeugt auch ein Bericht des Mährischen Grenzboten vom 24. April 1873, in dem Mahlers Auftreten in einem Konzert erwähnt wird – er spielte eine
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