- 123 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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ist die dreiklangähnlich aufsteigende auftaktige Kette aus vier Sechzehnteln, die sich als ein Militärsignal hören läßt. Hier leitet sie häufig punktierte Ketten ein, in Revelge die Trillerketten. Auch das erste Marschmotiv von Revelge, das schon im Vorspiel auftritt, läßt sich im vierten Satz in einer variierten Form entdecken, und zwar in Takt 179 in der Exposition, verlängert und gesteigert in den Takten 385 bis 394 in der Durchführung und wieder zurückgenommen in den Takten 720 bis 723 in der Reprise. Es wurde hier als »Kriegslärm-Episode« angesprochen.

Schließlich ist auch die Idee der Deformation musikalischer Idiome in beiden Werken deutlich vorhanden. Da ist zunächst die Eintrübung nach Moll, die in der Symphonie von der Dur-Sphäre des Marsches ausgeht, im Lied von der Dur-Sphäre des Volksliedes. Beide Anknüpfungsebenen werden weiter deformiert. Das Volkslied wird in die völlige Unsanglichkeit überführt, und der Marsch wird in beiden Werken über die Moll-Sphäre hinaus harmonisch weiter verfälscht und in der Instrumentierung verfremdet.

All diese übereinstimmenden Momente reichen doch kaum aus, um berechtigt von einer absichtsvollen Verknüpfung beider Werke zu sprechen, wie Mahler es mit den oben angeführten frühen Symphonien unternahm. Bei den Übereinstimmungen im vorliegenden Fall handelt es sich um gleiches oder ähnliches musikalisches Motivmaterial, das zur Kennzeichnung einer bestimmten Sphäre eingesetzt wird, nämlich der des Militärs.

Wenn Adorno von tiefsten Beziehungen zwischen beiden Werken sprach, dürfte er aber noch etwas anderes im Sinn gehabt haben als solche Übereinstimmungen, die bei ihm als »lose thematische Anklänge« bezeichnet sind. Eine Möglichkeit wäre, in der Sechsten eine überdimensionale symphonische Version des Liedes zu entdecken. Der erste Satz entspräche dann den ersten beiden Strophen, die das düstere Vorwärtsmarschieren zum Inhalt haben. Der apotheotische Schluß entspräche der »echten« Marschmusik, der Parademarschmusik im Nachspiel der zweiten Strophe (Takt 30f.). Die Strophen drei und vier entsprächen dem Andante moderato: milderer Charakter und Dur-Sphäre herrschen vor. Das Scherzo repräsentiert die fünfte Strophe. Der ungestüme Charakter des Symphoniesatzes kommt dem Aufbäumen des Trommlers nahe ebenso wie der sarkastischen Schlußzeile »die Brüder dick gesät«. Die Strophen sechs bis acht finden sich im Schlußsatz wieder: zunächst das verzweifelte Auferstehen des Soldaten, der Kampf und das Niederschlagen der Feinde in den Strophen sechs und sieben. Im Katastrophenschluß zeigt sich der letztendliche Niedergang des Soldaten.

Eine solche Annäherung muß sich den Vorwurf der Vordergründigkeit gefallen lassen. Zuhauf finden sich Argumente gegen diesen Gedankengang. So sucht man vergebens nach Entsprechungen von manchen Symphoniepassagen im Lied, etwa zu den idyllischen Feldern mit den Herdenglocken in den Ecksätzen oder zum Trio des Scherzos. Vielleicht sollte man sich darauf beschränken, eine Nähe in den Grundideen beider Werke zu sehen. Es handelt sich jeweils um den letztendlichen Niedergang im Kampf, um das Scheitern. Adorno jedenfalls kann diese Annäherung der Liedstrophen zu den Sätzen nicht gemeint haben, denn er ging von einer umgekehrten Reihenfolge der Mittelsätze aus162

162
Adorno, Mahler, S. 115
, die auch von der Mahler-Forschung favorisiert wurde.


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