des Mädchens in die Welt der Erwachsenen. Lily befindet sich
in der Pubertät, und der Film beschreibt die dargestellte Welt als Lilys
Fantasie, in der es neben den erwachenden Gefühle des Mädchens auch um
die Angst geht, schuldig zu werden, gepaart mit der Angst, Verantwortung zu
übernehmen.178
Vgl. French (1998), S. 154
|
Georgiana M. M. Colvile sieht im wiederkehrenden Motiv der Schlange bzw. der
Insekten eine fortschreitende Erotisierung Lilys, das zunehmende Erwachen ihrer
Sinne.179
Vgl. Colvile, Georgiana M. M.: »Malle surréaliste: Black Moon.« In: The French Review 3
(2/96), S. 445–452
|
Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt in Segment 60, wenn die Schlange ihr Bein
bis unter den Rock hoch kriecht. Mit diesem Akt scheint die Initiation beendet zu sein,
Lily hat gleichsam ihre Jungfräulichkeit und somit Unschuld verloren und ist nun
vollkommen im Haus integriert – anschließend gibt sie selbstsicher dem Einhorn die
Brust. Ein anderes Element ihrer Entwicklung vom Mädchen zur Frau stellt der
Bruder dar. Mysteriös, androgyn und offensichtlich stumm (jedoch im Garten
singend) fungiert er einerseits als Beschützer (er tröstet sie, als sie die tote
Soldatin im Garten findet), andererseits aber auch als eine Art Verführer (er
streichelt sie und berührt in Segment 33 ähnlich wie die Schlange später ihr
Bein).180
Vgl. ebda., S. 450: »Le monde qu’elle [Lily] regarde reflète l’imaginaire d’une très jeune
adolescente: l’élément masculin, à part les soldats anonymes et menaçants au début, se
réduit au seul personnage du frère [. . . ]. Il représente sa vision naïve et ambigüe de l’homme,
qui après l’avoir protégée contre le danger de la guerre [. . . ] personnifie lui-même ce danger
à la fin du film: il brandit une grande épée phallique, s’en sert pour décapiter un aigle, puis
brutalise sa soeur [. . . ].« (»Die Welt, die sie [Lily] betrachtet, entspricht der Vorstellung einer
sehr jungen Jugendlichen: außer den anonymen und bedrohlichen Soldaten reduziert sich das
Maskuline einzig und allein auf die Figur des Bruders [. . . ]. Er repräsentiert ihre naive und
zweideutige Vision des Mannes, der, nachdem er sie vor den Gefahren des Krieges beschützt
hat [. . . ], am Ende des Films selbst eine Gefahr darstellt: er zückt ein großes phallisches
Schwert, benutzt es um den Adler zu köpfen und misshandelt seine Schwester [. . . ].«)
|
Die Angst vor Schuld und Verantwortung manifestiert sich in den Vorwürfen, die
sich Lily anhören muss. Sie sind Projektionen ihrer Ängste. Bereits zu Beginn
wird dieser Themenkomplex von der Stimme (offensichtlich eines Priesters)
im Autoradio eingeleitet (»I want to talk about your sin!«). Im Verlauf des
Films ist es vor allem das Einhorn, das sie immer wieder als Eindringling
bezeichnet. Lily scheint durch ihre Präsenz das im Mikrokosmos des Hauses und
seiner Umgebung herrschende Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur zu
gefährden,181
In Segment 45 kommt es zur einzigen Konversation zwischen dem Einhorn und Lily.
Dieses wirft ihr vor, dass sie es ständig verfolge und deshalb eine ›petite emmerdeuse‹
(›Nervensäge‹) sei, außerdem die Blumen und Bäume malträtiere. An dieser Stelle findet
sich ein ironischer Verweis auf den Godard-Klassiker A bout de souffle (F 1959), da Cathryn
Harrison ähnlich wie Jean Seberg mit englischem Akzent fragt: »Qu’est-ce que c’est une
petite emmerdeuse?« Jean Seberg fragt am Ende von A bout de souffle: »Qu’est-ce que c’est:
dégeulasse?«.
|
sie muss erst noch lernen, sich in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden. So erfährt sie,
dass es den Blumen wehtut, wenn man auf sie tritt, dass von ihr erwartet wird, die alte
Dame zu stillen, zum Gesang der Kinder Klavier zu spielen, etc. Das sich entwickelnde
Verhalten Lilys in Bezug auf die mysteriösen Regeln, die in dieser fremden Welt
herrschen, gibt den Verlauf der Veränderung wieder, der sich Lily unterzieht. Sie agiert
mit fortschreitender Dauer zunehmend selbstsicherer. Ein Wendepunkt scheint ihr
musikalischer Beitrag zur Kinderaufführung von Tristan und Isolde zu
|