Diese Szene erinnert sowohl musikalisch als auch visuell an Stummfilmburlesken
(Horton spricht von einer »suitably bouncy music in the silent-film
tradition«89
Vgl. Horton, Andrew: »Growing up absurd. Malle’s Zazie dans le Métro (1960) from the
novel by Raymond Queneau«. In: Horton, Andrew/Magretta, Joan (Hrsg.): Modern european
filmmakers and the art of adaption. New York: Frederick Ungar Publishing 1981, S. 63–77,
hier S. 70
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).
Die Musik, ein ragtime-artiges schnelles Stück, akzeleriert das Tempo im B-Teil
entsprechend der nun beginnenden Verfolgungsjagd in der schmalen Einkaufspassage.
Dabei ist die Musik dem Rhythmus der Füße Zazies angepasst.
Wesentlich länger und analytisch ergiebiger ist der nächste musikalische
Slapstick-Einsatz. Nachdem Zazie mit Pedro im Restaurant Muscheln und
Pommes Frites gegessen hat, flüchtet sie mit den Jeans. Hierbei werden
die einzelnen Episoden dieser Flucht durch das »plan leit-motiv de cette
poursuite«90
»Zazie dans le métro – découpage«, S. 28 (»leitmotivische Einstellung dieser Verfolgung«)
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getrennt, das Zazie lachend in Großaufnahme zeigt. Von den engen Gassen des
Flohmarktes geht es über zahlreiche Treppen und Passagen, Dächer und Straßen, bis
die wilde Jagd nach einer Fahrt auf der Autoroute de l’Ouest ihren Abschluss
findet. Während dieser fast fünf Minuten erklingt nahezu pausenlos Musik,
zumeist absichtlich zu schnell abgespielter Ragtime bzw. New-Orleans-Style.
Hierbei ist es teilweise nur noch möglich den Bass zu verfolgen, da Ober- und
Melodiestimmen an manchen Stellen durch die hohe Geschwindigkeit (bis zu Ganze =
132) verschwimmen.
Musik und Bild sind genau aufeinander abgestimmt. Dieses wird vor allem
in der Szene auf dem Dach der Passage du Grand Cerf deutlich. Sobald die
Bewegungen in Zeitlupe erscheinen, halbiert auch die Musik das Tempo, bevor
es danach wieder verdoppelt wird. Sabine Laußmann schreibt, »daß die
Handlungen und Bewegungen der Hierarchie des Pesudo-Stummfilm-Dikurses
untergeordnet sind: Nicht der Aktion als solcher gilt sein [L. Malles] Hauptinteresse,
sondern der Integration von Bewegung in ein ›Ballett‹ filmisch koordinierter
Abläufe«.91
Das gleiche ließe sich auch von der Musik sagen, deren Ausdruck und Gehalt durch das
irrsinnige Tempo derart verfremdet wird, dass sie zur reinen Untermalung, eingeordnet
in die Choreographie der zu begleitenden Sketche, degradiert wird. Gerade in diesem
Abschnitt verhält sich die Musik vollkommen paraphrasierend zum Bild. Auch ohne
Musik wäre dieser Klamauk witzig, die Musik verstärkt lediglich den visuellen Effekt und
reißt den Filmbetrachter durch das Tempo mit. Der Verfremdung der Musik
durch die übertrieben schnelle Geschwindigkeit entspricht auf der Bildebene das
zusammenhangslose Aneinanderreihen der Gags: Zazie, die sich in eine Katze bzw.
ältere Frau verwandelt, Zazie, die Pedro Ruß ins Gesicht schießt, ihn mit einer
Bratpfanne niederstreckt, ihn mit einem Boxhandschuh k. o. haut oder ihn mit einem
überdimensionalen Magneten an einen Brückenpfeiler zieht – die Aktionen folgen dem
Gesamtkonzept des »ballet burlesque de comédie tout à fait folle, tout à fait
absurde«,92
Les Lettres Françaises, 27. 10. 1960, zit. n. Laußmann (1989), S. 377 (»burleskes, absolut
verrücktes und absurdes Ballett«)
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einer liebevollen Hommage an die amerikanische Stummfilmkomik, zeitversetzt ins Paris
der frühen 60er-Jahre.
Ein weiteres Kennzeichen für das Genre der Burleske sind die Geräusche,
die bei den vielfältigen Attacken und Streichen Zazies gegen Pedro eingesetzt
werden.
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