- 261 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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zu einem selbständigen Auseinandersetzen mit dem Filminhalt animieren, indem er keine weiteren Erklärungen liefert, sondern durch eine weitestgehend neutrale Präsentation mehrere Betrachtungs- und Interpretationswege offen lässt.

Was Malle in erster Linie für das Bild und dessen Bearbeitung in Form der Montage ansieht, gilt auch für den Filmton und insbesondere die Musik. Durch das Fehlen von extern montierter Musik unterstützt Malle die neutrale Darstellung und vermeidet ein bewusstes, vordergründig emotionales Beeinflussen des Zuschauers. Hinzu kommt, dass in den Indien-Filmen der Off-Kommentar keine Wertung vornimmt, sondern lediglich die für das Verständnis der Bilder notwendigen Informationen bereit hält. Dieses auf den ersten Blick wertfreie Präsentieren erreicht seinen vorläufigen Höhepunkt in dem Dokumentarfilm Humain, trop humain (1972), in dem weder Off-Kommentar noch sonstige klar verständliche Dialoge montiert werden, sondern lediglich der nonverbale Lärm des Fließbands zu vernehmen ist. Malle wendet sich somit paradoxerweise von einer Autorentheorie im Sinne eines Chabrol oder Truffaut ab680

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Vgl. Malles Kommentar in Braucourt (1969), S. 30: »Ce qui m’intéresse personnellement dans ce cinéma c’est qu’à la limite on dépasse cette notion sacrosainte en France du cinéma d’auteur, en ce sens que ce n’est pas la vision qu’un créateur ou qu’un artiste vous expose, mais vraiment une expérience vécue qu’on vous livre comme ça et qui demande du spectateur une participation plus importante que pour un film normal [. . . ]« (»Was mich persönlich an dieser Form des Kinos interessiert, ist, dass man im Extremfall das in Frankreich ach so heilige Prinzip des Autorenkinos überwindet, in dem Sinne, dass Ihnen nicht mehr ein Schöpfer oder ›Künstler‹ eine Vision auferlegt, sondern Ihnen eine gelebte Erfahrung präsentiert wird, die man Ihnen einfach so liefert und die vom Zuschauer eine stärkere Beteiligung als für einen normalen Film erfordert [. . . ]«)
, indem er dem Zuschauer nicht seine Meinung und Weltanschauung aufdrängt bzw. anbietet, während gleichzeitig die dargestellte Neutralität seiner Filme ein Kriterium bildet, das erlaubt, in seinem Werk ein übergeordnetes ästhetisches Programm zu sehen.

Diese Dokumentarästhetik nimmt starken Einfluss auf die folgenden Spielfilme der zweiten Periode: Le Souffle au coeur (1971), Lacombe Lucien (1974), Pretty Baby (1978) und Atlantic City, U.S.A. (1980) stellen Fusionen von Dokumentar- und Spielfilmen dar, indem sie Elemente des cinéma direct in die Handlung integrieren: Malle schafft den Dokumentarischen Spielfilm. Die erwähnten Elemente liegen beispielsweise in der grundsätzlichen Haltung Malles, das Verhalten und den Charakter von Figuren in seinen Filmen nicht zu be- bzw. verurteilen. So vermeidet er eine Montage, die Wertungen suggerieren könnte, ebenso wie eine eingreifende Musikdramaturgie im Off (die Mehrzahl der Musikeinsätze ist im On verankert), die Emotionen zur Identifikation mit dem Protagonisten suggerieren könnte.681

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Serge Toubiana spricht in diesem Zusammenhang von einem »regard froid posé sur des sujets brûlants«. Zit. n. Toubiana, Serge: »La cinéphilie, au juste«. In: Cahiers du Cinéma 498 (1/96), S. 22 f., hier S. 22 (»kalter Blick auf heiße Themen«).
Des Weiteren engagiert er Laien- bzw. Theaterschauspieler, um den spontanen Esprit des cinéma direct zu erhalten:

»Aussi suis-je intimement persuadé que réel et fiction se nourissent l’un à l’autre. C’est pourquoi j’ai toujours utilisé mon expérience de documentariste dans mes films de fiction, surtout les derniers. Ainsi dans Au revoir les enfants, mes jeunes interprètes ne travaillaient pas leurs rôles comme des comédiens professionnels.«682

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Malle in Prédal (1989), S. 90 (»Auch bin ich fest davon überzeugt, dass sich die Realität und die Fiktion gegenseitig befruchten. Deswegen habe ich immer meine Erfahrung mit Dokumentarfilmen auf die Spielfilme angewandt, vor allem bei den letzten. So lernten in Au revoir les enfants die jungen Darsteller ihre Rollen nicht wie professionelle Schauspieler.«)


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