Road Map For A Free Jazz Group (Take 21/26) Malle montiert in den
Segmenten 75–76 Ausschnitte von Free Jazz-Stücken. Lou begleitet Sally in ihr neues
Haus. In diesem Haus ertönt Free Jazz, offensichtlich von einem Tonband, welches man
im Hintergrund erkennen kann. Warum Free Jazz? Zur möglichen Erklärung
dieser Wahl erscheint es notwendig, kurz auf die Hintergründe dieses Jazzstils
einzugehen.
Ähnlich wie der Bebop zu Beginn der vierziger Jahre schockierte der Free Jazz in den
60er-Jahren das Jazzpublikum. Neben der Auflösung des Metrums und des Beats war vor allem
der Vorstoß in die Atonalität eine unerhörte Neuerung. Der herkömmlichen Formen und der
bisherigen Tonsprache überdrüssig, suchten einige Musiker neue Wege, so z. B. eine Öffnung des
Musikinteresses in Bezug auf Weltmusik oder die Form der Kollektivimprovisation. Die
Entstehung des Free Jazz ging mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den
afroamerikanischen Emanzipationsbewegungen Ende der 50er-Jahre einher. Zudem setzte das
Bewusstsein ein, dass es notwendig sei, sich gegenüber der auf kommerzielle Interessen
ausgerichteten Kulturindustrie in einer alternativen Szene zu formieren und auch selbst zu
organisieren. So wurde 1960 als Gegenveranstaltung des Newport Jazz Festival das
Alternative Newport Jazz Festival unter der Regie von Charles Mingus und Max Roach
organisiert. Es wurden alternative Musikerkooperativen wie die Jazz Composers Guild
gegründet. »Eines der Prinzipien der Jazz Composers Guild war es, die damals als
›Avantgarde‹ qualifizierten Musiker zusammenzubringen und dadurch zu einer politischen
Kraft zu gelangen, deren Existenz sich auf spektakuläre Weise bemerkbar machen
sollte.«624
Cecil Taylor zitiert nach Jost (1982), S. 213
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Ebenfalls zu nennen ist die Association for the Advancement of Creative Musicians in
Chicago, die auf den Pianisten Muhal Richard Abrams zurückgeht. Ein bedeutender
Aspekt war das Gruppengefühl. »Wir taten uns zusammen und machten es selber.
Wenn wir eine Gruppe von neun Leuten waren und drei von uns wollten etwas
aufführen, dann hieß es okay: Die drei, die auftreten werden, fangen sofort an zu
proben. Und von denen, die nicht auftreten, wird einer zur Druckerei gehen, ein anderer
zum Rundfunksender, ein anderer zur Zeitung, ein anderer ruft die Leute an ...
Wir machten alles selbst, so daß wir auch die ganze Angelegenheit unter Kontrolle
hatten.«625
Joseph Jarman zitiert nach Jost (1982), S. 215 f.
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In diesem Punkt wird eine Parallele zum Film deutlich: Sally zieht mit ihren zukünftigen
Arbeitskollegen, die alle in ihrer Croupier-Klasse sind, zusammen in ein Haus, welches
sie selber renovieren. Die Atmosphäre erinnert ein wenig an eine Hippie-Kommune
mit der Ausnahme, dass in diesem Fall offensichtlich die Arbeitszeiten streng
geregelt sind, da Sally sich mehrmals für ihre Verspätung entschuldigt. Neben der
musikalischen Vorliebe einiger der Bewohner für den Free Jazz (offensichtlich
soll in der Kommune eine alternative Stimmung verbreitet bzw. der Geist der
von allen gängigen Regeln befreiten Musik übertragen werden) gibt es weitere
Übereinstimmungen der Bilder mit der Musik: Diese Wohngemeinschaft, in der jeder
eine andere Aufgabe übernimmt, mutet wie das Prinzip der Kollektivimprovisation
an, zumal keine professionellen Handwerker beschäftigt werden, sondern beim
Renovieren im wahrsten Sinne des Wortes ›improvisiert‹ wird. Sally und ihre
Mitbewohner bilden zudem eine Art Interessengemeinschaft ähnlich den oben
genannten Vereinigungen. Ironischerweise dient diese Gemeinschaft jedoch nicht dem
Kampf gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung (in freier Analogie zur
kommerziellen Kulturindustrie, s. o.), sondern stellt eine rein pragmatische
Zweckgemeinschaft dar,
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