- 234 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Road Map For A Free Jazz Group (Take 21/26) Malle montiert in den Segmenten 75–76 Ausschnitte von Free Jazz-Stücken. Lou begleitet Sally in ihr neues Haus. In diesem Haus ertönt Free Jazz, offensichtlich von einem Tonband, welches man im Hintergrund erkennen kann. Warum Free Jazz? Zur möglichen Erklärung dieser Wahl erscheint es notwendig, kurz auf die Hintergründe dieses Jazzstils einzugehen. Ähnlich wie der Bebop zu Beginn der vierziger Jahre schockierte der Free Jazz in den 60er-Jahren das Jazzpublikum. Neben der Auflösung des Metrums und des Beats war vor allem der Vorstoß in die Atonalität eine unerhörte Neuerung. Der herkömmlichen Formen und der bisherigen Tonsprache überdrüssig, suchten einige Musiker neue Wege, so z. B. eine Öffnung des Musikinteresses in Bezug auf Weltmusik oder die Form der Kollektivimprovisation. Die Entstehung des Free Jazz ging mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den afroamerikanischen Emanzipationsbewegungen Ende der 50er-Jahre einher. Zudem setzte das Bewusstsein ein, dass es notwendig sei, sich gegenüber der auf kommerzielle Interessen ausgerichteten Kulturindustrie in einer alternativen Szene zu formieren und auch selbst zu organisieren. So wurde 1960 als Gegenveranstaltung des Newport Jazz Festival das Alternative Newport Jazz Festival unter der Regie von Charles Mingus und Max Roach organisiert. Es wurden alternative Musikerkooperativen wie die Jazz Composers Guild gegründet. »Eines der Prinzipien der Jazz Composers Guild war es, die damals als ›Avantgarde‹ qualifizierten Musiker zusammenzubringen und dadurch zu einer politischen Kraft zu gelangen, deren Existenz sich auf spektakuläre Weise bemerkbar machen sollte.«624

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Cecil Taylor zitiert nach Jost (1982), S. 213
Ebenfalls zu nennen ist die Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago, die auf den Pianisten Muhal Richard Abrams zurückgeht. Ein bedeutender Aspekt war das Gruppengefühl. »Wir taten uns zusammen und machten es selber. Wenn wir eine Gruppe von neun Leuten waren und drei von uns wollten etwas aufführen, dann hieß es okay: Die drei, die auftreten werden, fangen sofort an zu proben. Und von denen, die nicht auftreten, wird einer zur Druckerei gehen, ein anderer zum Rundfunksender, ein anderer zur Zeitung, ein anderer ruft die Leute an ... Wir machten alles selbst, so daß wir auch die ganze Angelegenheit unter Kontrolle hatten.«625
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Joseph Jarman zitiert nach Jost (1982), S. 215 f.

In diesem Punkt wird eine Parallele zum Film deutlich: Sally zieht mit ihren zukünftigen Arbeitskollegen, die alle in ihrer Croupier-Klasse sind, zusammen in ein Haus, welches sie selber renovieren. Die Atmosphäre erinnert ein wenig an eine Hippie-Kommune mit der Ausnahme, dass in diesem Fall offensichtlich die Arbeitszeiten streng geregelt sind, da Sally sich mehrmals für ihre Verspätung entschuldigt. Neben der musikalischen Vorliebe einiger der Bewohner für den Free Jazz (offensichtlich soll in der Kommune eine alternative Stimmung verbreitet bzw. der Geist der von allen gängigen Regeln befreiten Musik übertragen werden) gibt es weitere Übereinstimmungen der Bilder mit der Musik: Diese Wohngemeinschaft, in der jeder eine andere Aufgabe übernimmt, mutet wie das Prinzip der Kollektivimprovisation an, zumal keine professionellen Handwerker beschäftigt werden, sondern beim Renovieren im wahrsten Sinne des Wortes ›improvisiert‹ wird. Sally und ihre Mitbewohner bilden zudem eine Art Interessengemeinschaft ähnlich den oben genannten Vereinigungen. Ironischerweise dient diese Gemeinschaft jedoch nicht dem Kampf gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung (in freier Analogie zur kommerziellen Kulturindustrie, s. o.), sondern stellt eine rein pragmatische Zweckgemeinschaft dar,


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