Laureux während der Reise aufgezeichnet. Schneider siedelt entsprechend der
Zuordnung auf der Bildebene eine derartige Auswahl an Filmklangs in der äußeren
Realität an (»Akustisches Repertoire der gegebenen Wirklichkeit bei minimaler
Gestaltung«).349
Prédal sieht in dieser selbst auferlegten Beschränkung auf den ›son direct‹ eine neue
Ästhetik: »Aucune séquence n’est composée d’images muettes assorties de sons
d’ambiance car de ces contraintes du ›direct‹ à l’état brut, Malle tire une esthétique
nouvelle.«350
Prédal (1989), S. 74 ff. (»Keine Sequenz besteht aus stummen Bildern, die mit
Atmosphären-Klängen versehen ist, denn Malle nutzt die Zwänge des ›direct‹ im Rohzustand,
um eine neue Ästhetik zu kreieren.«)
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›Son direct‹ bedeutet jedoch nicht automatisch ›son synchrone‹, so dass an manchen
Stellen der Serie L’Inde fantôme die Musik weitergeführt wird, obwohl die
Tonquelle augenscheinlich nicht mehr im Bild ist. Zudem sind die eigens von Louis
Malle mit seiner Beaulieu gefilmten Passagen mit extern montierten Geräuschen
oder Musik belegt, da diese Kamera nicht mit dem Tonbandgerät gekoppelt
war.351
Louis Malle in Comolli/Narboni/Rivette (1969), S. 60: »Presque tout ce qui a été tourné
avec l’Eclair était synchrone, même les manifestations. Les seuls plans sans son sont ceux
que j’ai tournés avec la Beaulieu.« (»Nahezu alles, was mit der Eclair gedreht wurde, ist
synchron, auch die Demonstrationen. Die einzigen Einstellungen ohne Ton sind die, die ich
mit der Beaulieu gedreht habe.«)
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Das Montieren einer »Musik am
Drehort«352
– einer Musik, die direkt am Drehort aufgezeichnet wurde – auf andere Teile des Films
konstituiert einen dramaturgischen Eingriff seitens des Regisseurs, d. h. die absolute
Synchronität von Bild und Ton wird an diesen Stellen verlassen. Die Ästhetik des
Films verschiebt sich in Richtung der inneren Realität, der inneren Realität des
Regisseurs.353
Vgl. ebda, S. 30 f. In Bezug auf Felix Kuballas Film Wer umarmt wen? konstatiert Schneider
ebenfalls eine Verschiebung der Ästhetik durch die Verwendung von Musik: »In Felix Kuballas
Worten (etwa beim Stichwort ›Szenenmontage‹) wird jedoch deutlich, daß ›Musik am
Drehort‹ – so sehr sie der äußeren Realität angehört – in hohem Maße bereits auf eine innere
Realität verweist: durch die Selektion [. . . ] von Musik und Geräuschen, sowie durch die Art
des Schnitts wird bereits eine Interpretation äußerer Realität in Gang gesetzt.«
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Auf meine Frage an Jean-Claude Laureux, ob dieses nicht der Beginn einer mise en
scène sei, die ja von Malle so rigoros abgelehnt wird, antwortet er:
»On n’est pas enfermé dans des principes. Toutes les scènes que vous avez
vues, elles ont été filmées avec du son. Certaines fois on a pu se dire que le
son ne nous intéresse pas et on va prolonger la musique de la scène d’avant.
Ça, c’est la liberté du cinéaste. Et même des fois, on peut tricher encore plus,
on peut faire du faux synchrone, on peut avoir pris le son en direct sur cette
image-là, mais on trouvait un autre qu’on arrive à caler par dessus et à faire
croire qu’il est celui-là. Tout dépend de l’intention, si elle est bonne ou si elle
est pernicieuse. Si Louis dit ›pas de mise en scène‹, il a tort parce qu’il y a
toujours une mise en scène. Mais quand il dit ›pas de mise en scène‹, et ça on
n’a jamais fait, et beaucoup de documentaristes le font, c’est de faire jouer les
gens, de refaire un plan. J’ai travaillé avec Joris Ivens et j’étais très surpris
parce qu’il y avait quelqu’un qui rentrait dans la pièce et puis il a coupé et il a
dit: ›bon, on va recommencer, vous rerentrez.‹ Jamais Louis il ne l’aurait fait
rentrer deux fois.«354
»Man ist nicht an feste Prinzipien gebunden. Alle Szenen, die Sie gesehen haben,
wurden mit Ton gefilmt. Einige Male haben wir uns gesagt, dass uns der Ton
nicht interessiert und dass wir die Musik der vorherigen Szene verlängern. Das
ist die Freiheit des Regisseurs. Und manchmal kann man sogar noch mehr
schummeln: indem man für eine Einstellung einen Ton aufnimmt, aber einen
anderen findet, den man schließlich auf die Szene legt und vorgibt, dass dieser
der Originalton ist. Alles hängt von der Intention ab, ob sie gut oder schädlich
ist. Wenn Louis ›keine mise en scène‹ sagt, hat er unrecht, da es immer eine
mise en scène gibt. Aber wenn er dieses sagt, meint er damit etwas, das viele
Dokumentarfilmer machen, er jedoch nie gemacht hat; nämlich die Leute spielen
zu lassen, eine Einstellung zweimal zu drehen. Ich habe beispielsweise mit Joris
Ivens gearbeitet und war sehr überrascht. Jemand kam in ein Zimmer und er
machte einen Schnitt und sagte, ›Ok, Sie kommen noch einmal herein‹. Louis
hätte niemals die Leute zweimal spielen lassen.« (Interview mit dem Verfasser,
4. 4. 2001)
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