- 326 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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b. Das Modell der Bildung von Komplexen ("Superzeichen")


Musikalische Laien stehen oft staunend von der Frage, wie geübte Musiker ein Musikstück in allen Einzelheiten seines Verlaufs verfolgen, einzelne Passagen spontan am Klavier nachspielen und komplexe harmonische Verläufe nachvollziehend beschreiben und von anderen Verläufen unterscheiden können.

Wie jeder Musiker weiß, beruht dies nicht auf Magie oder übernatürlicher Fähigkeit, sondern auf einem Lernweg, den ich - einen entsprechenden Unterricht voraussetzend - folgendermaßen beschreiben möchte: die Einzelheiten und charakteristischen Eigenschaften eines musikalischen Verlaufs (in der Harmonik z. B. die Akkorde und Varianten des Trugschlusses) werden untersucht, analysiert und benannt. In einer Lernphase, die dem Vokabellernen vergleichbar ist, in der man nur die unregelmäßigen Verben einer bestimmten Konjugationsart übt (aber diese komplett), werden die Unterscheidungsmerkmale (Ersatzakkorde) und Gemeinsamkeiten (Baßführung von der V. in die VI. Stufe) der Trugschlußvarianten in Notenbild, Klang und Begriff geübt. Wird dies sicher beherrscht, sind die drei standardmäßigen Trugschlüsse (Tonikaparallele, Subdominantsextakkord und Doppeldominante) in allen musikalischen Kontexten abrufbar, ohne daß jedesmal neu über die Einzelheiten nachgedacht werden muß: es hat sich beim Lernenden das "Superzeichen" namens "Trugschluß" gebildet - ein Lernweg übrigens, der für die Instrumentalpädagogik ganz selbstverständlich ist und auf dem die Existenzberechtigung von Tonleiter-, Arpeggio- und Etüdenspiel beruht. Einen anschaulichen Vergleich bietet das Schachspiel, in dem der Meister beim Beurteilen einer Stellung auch nicht immer wieder die Zugvarianten aller Figuren im Geiste durchspielt, sondern Stellungsgruppen als Ganzes beurteilt.

Vor allem beim Bestimmen über die "Schnittstelle" des Klangbilds leistet dieses Lernmodell der Komplexbildung gute Dienste. Beispielsweise ist die Zahl von Kadenzvarianten im Klaviersatz durchaus überschaubar, und so könnte z.B. ein Computerprogramm, in dem als Bibliothek sämtliche Kadenzvarianten mit einer Transpositions-Variablen enthalten sind, für die Erarbeitung und Automatisierung des Komplexes namens "Kadenz" gute Dienste leisten.

Aus der Kombination dieser Modelle kann sich eine Didaktik der Gehörbildung entwickeln:

In jedem der vier Bereiche des oben dargestellten Assoziationsmodells können auf die beschriebene Art übergeordnete Komplexe gebildet werden. Für jede "Schnitt-stelle" wird dabei ein Repertoire von sensomotorischen Vorgängen erarbeitet, die reflexhaft abgerufen werden. Ähnlich wie im Instrumentalunterricht steht dabei der Trainingsaspekt durchaus im Vordergrund.

Bei vielen Musikschülern, aber auch professionellen Musikern, kann man hinsichtlich der Assoziationsfähigkeit zwischen den vier "Schnittstellen" starke Einseitigkeiten beobachten. Bei Jazz- und Rockmusikern etwa, deren musikalischen Sozialisation häufig ganz anders verläuft als die "normaler" Musikschüler, aber auch bei Studenten


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