- 246 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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Neben diesem rein praktischen Aspekt, für den auch eine weniger ausgefeilte graphische Darstellung ihren Dienst tun würde, eignet sich die Tempographik besonders, um solche Zeitstrukturen zu verdeutlichen, die wesentlich auf dem Prinzip der steigernden Beschleunigung und nachlassenden Verlangsamung basieren, wie es besonders bei auf gleichmäßigen Spielfiguren beruhenden oder in anderer Weise motorisch dominierten Stücken und Passagen die Regel ist.

In den gezeigten Abbildungen beispielsweise wird nicht nur die Tatsache, daß das Tempo verschiedene Werte annimmt, sondern auch die interpretatorische Formkonzeption selber anschaulich, die nach dem Temporückgang (von ca. 110 auf ca. 80 für die ganzen Takte) am Beginn des zweiten Themas eine stringente Steigerung bis zum Schluß der Exposition aufweist, der das Haupttempo wieder erreicht. Sichtbar wird auch - durch die Verwendung einer Realzeitachse als x-Achse - die zeitliche Gewichtung der Fermaten in der gesamten Exposition.

Ein Problem an dieser Darstellungsweise ist allerdings, daß sich im Bereich kurzer Zeitwerte die Ungenauigkeit der Messung optisch besonders stark auswirkt. Nehmen wir beispielsweise an, daß der Eintippfehler bis zu ±0,1 Sekunden betragen kann, dann wirkt sich dieser Fehler in einer Dauergraphik als gleichmäßige Unschärfe in der Höhe sämtlicher Balken aus und ist somit optisch leicht kalkulierbar. Bei der Tempographik hingegen ergibt sich beispielsweise im Tempobereich MM = 60 eine Unschärfe von ±20%, im Tempobereich MM = 7,5 (der etwa im Bereich der Zwei- oder Viertaktwerte durchaus vorkommt) jedoch nur eine Unschärfe von ±2,5%.

Die tatsächliche Ungenauigkeit des einzelnen Zeitintervalls kann doppelt so hoch ausfallen wie die Ungenauigkeit des Eintippvorgangs, da sich für den Anfangs- und Endwert Abweichungen in unterschiedlichen Richtungen ergeben können.


Da zudem die Balken bei MM = 60 achtmal höher sind als bei MM = 2,5, ist die absolute Ungenauigkeit, die für das Auge in erster Linie entscheidend ist, für MM = 60 folglich 64mal größer als für MM = 7,5.

Um diesen Faktor wenigstens der reflektierten Betrachtung zugänglich zu machen, ist in das Graphikprogramm eine Sonderfunktion "Vertrauensintervall" eingebaut, die zusätzlich zu den Hauptbalken, die die gemessenen Werte angeben, höhere und niedrigere Linien in der Höhe angibt, die anzeigen, in welchem Bereich sich der tatsächliche Wert befindet, falls die (beim Aufruf dieser Funktion frei wählbare) vorgegebene Meßungenauigkeit nicht überschritten wurde. In der oberen Abbildung ist eine Eintippungenauigkeit von 0,1 Sekunden berücksichtigt.

Wenn sich in dieser Abbildung zwei benachbarte Vertrauensintervalle überschneiden, bedeutet das also, daß sich die tatsächlichen Werte nicht signifikant unterscheiden. (Das gilt jedoch nicht für den Vergleich längerer Passagen gleichmäßigen Tempos: mehrere Werte hintereinander können nicht in der gleichen Richtung stark vom gemessenen Wert abweichen.) Aus der Breite der Vertrauensintervalle in der oberen Abbildung kann man leicht ersehen, daß die Meßgenauigkeit dieser Methode nicht hinreicht, um Agogik im Bereich weniger Takte zu messen.


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