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1.3.  Vernichtung von Vieldeutigkeit

Justin London hat die Strong Reduction Hypothesis der GTTM, d. h. die strikte Hierarchie-Regel des Hörens von Klängen (Pitch Events) kritisiert14

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London, Justin: The „Strong Reduction Hypothesis“ of GTTM. In: Irène Deliège (éd.): Proceedings of the ICMPC, ESCOM, Liège 1994.
. Er argumentiert zu recht, daß die Vieldeutigkeit ein wesentliches Merkmal der Musik, nicht ein Defekt sei.

Der Versuch, durch strikte Hierarchie des Hörens Vieldeutigkeit zu beseitigen, ist in der Tat ein Denkfehler der GTTM-Autoren auf der Ebene der Semiotik. Der Formalismus der Hierarchie wird bemüht, um Aussagen zu erzwingen, die von der Sache her weder intendiert, noch nötig sind. Durch den Versuch, eindeutige Semantik durch eine inadäquate Form (Hierarchie) zu erzwingen, wird Musik an einem Punkt eingemittet, wo sie gar nicht stattfindet. Ginge es in der Musik um die Vermittlung einer eindeutigen Botschaft, dann wären jene unendlich fortgesetzten Aufführungen der Werke sinnlose Wiederholungsrituale. Gerade hier würde die Legitimation der Aufführungspraxis jenseits von sozialen Kollektiverlebnissen erlöschen.

Wir haben schon wiederholt betont, daß Musik das im Vieldeutigen Bestimmte, und nicht das eindeutig Unbestimmte sei. Musikwissenschaft muß eine exakte Theorie des Vieldeutigen sein, und nicht eine vieldeutige Theorie oder gar eine normative Dogmatik, nur weil man dem Vieldeutigen nicht gewachsen ist. Eine solche Haltung würde in der Physik dahin münden, die Ungleichung der Unschärferelation verwerfen zu müssen, weil man keine Ungleichungen beherrscht . . . Es gibt keine unscharfe Theorie, es gibt nur unscharfe Theoretiker.

In dieses Kapitel gehört auch die Kritik von Mauro Botelho15

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Botelho, Mauro: Tonal Groupings: An Addendum to Lerdahl and Jackendoff’s „A Generative Theory of Tonal Music“. In: Irène Deliège (éd.): Proceedings of the ICMPC, ESCOM, Liège 1994.
: daß es nämlich außer der in der GTTM betrachteten Rhythmus-segmentierten Gruppierung auch Segmentierung gebe, die durch tonale Eigenschaften definiert sei. Und daß die Gruppierung in Teile bei weitem nicht disjunkt sein müsse, Überlappungen seinen durchaus normal. Außer den von Botelho genannten Gruppierungen gibt es bekanntlich noch viele Gruppierungen, die auch nicht mit Bezug auf die Zeitachse definiert sind: die Stimmen des Kontrapunktes, die harmonische Unterteilung von Akkorden, die Motivgruppen der motivisch-thematischen Analyse, um nur ganz wenige zu nennen. Es ist eines der zentralen Themen der Mathematischen Musiktheorie, überlappende Gruppierungen formal korrekt als „diskrete globale Mannigfaltigkeiten“ zu definieren und die mathematische Kategorie dieser Objekte zu untersuchen. Bezeichnenderweise wird die MacDonalds-Welt der radikalen Segmentierung bei Lerdahls Ansatz zu einer Harmonielehre, den wir in Abschnitt 3.3 ansprechen, umgehend aufgegeben.

Fazit 3. Rhythmische Gruppierung ist ein atypischer Spezialfall globaler Strukturen in der Musik. Das Hierarchieprinzip der Strong Reduction Hypothesis zerhackt genuin musikalische Vieldeutigkeit in unzusammenhängende, an Bedeutung massiv verarmte Syntagmen.


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