- 246 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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Die digital-akademische Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts um die exakte Ausführung barocker Manieren tendierte aber dazu, auch hier den Blick für das Wesentliche zu verstellen, nämlich den intendierten Klangeffekt, der möglicherweise auf modernen Instrumenten auf abweichende Art zu erzielen wäre als auf barocken. (Man vergleiche bezüglich der von Bach erwähnten „bloßen simplen Noten“ nur das Abklingverhalten eines Cembalos oder Spinetts mit einem Pianoforte neuerer Bauart.)

Auch die folgende Anekdote des Komponisten Leos Janacek verdeutlicht, in welch absurder Weise die Welten von Digitalität und Klanglichkeit im Widerspruch stehen können und symbolisiert gleichzeitig die inzwischen immer häufiger feststellbare gegenläufige Tendenz der Dekonstruktion digitaler Kriterien beim Musizieren. Der Pianist Rudolf Firkusny berichtete über seinen Klavierunterricht bei Janacek:

„Natürlich spielte ich mit ihm auch die meisten seiner Klavierwerke. Und hier war Janacek bezeichnenderweise inkonsequent: Oft änderte er – wohl aus seiner impulsiven Natur heraus – die gedruckte Vorlage ab.“20

20
Rudolf Firkusny: Rudolf Firkusny über Janacek, in: Beilage zur CD DG 449764-2: Leos Janacek: Klavierwerke, Hamburg 1997.

Eine derart „inkonsequente“ Vorgehensweise eines Komponisten mußte im „Jahrhundert des Urtexts“, nämlich dem zwanzigsten, zu erheblicher Irritation führen. Das Betätigen einer anderen Taste als von der Drucksache bestimmt, galt für Pianisten seit fast zwei Jahrhunderten als Inbegriff des Fehlers. Ändert ein Komponist gar sein Werk ab, relativiert er das Absolute, ein Paradoxon – inzwischen aber, zumindest in vielen außermusikalischen Disziplinen einschließlich der Naturwissenschaften anerkannte Realität.

Die Medienwirklichkeit des 21. Jahrhunderts wird die Idee der Relativität auch in der Musikkultur durchführen und die entsprechenden Konflikte zuspitzen. Bereits heute deutet sich die Verflüssigung des Festen und die Relativierung des Absoluten in der Musikpraxis ab. Die Musikelektronik schafft in der zunehmenden Beschleunigung von Zugriffszeiten in den Mikrosekundenbereich und damit der Entlinearisierung und Entgrenzung der Medien die Voraussetzung für eine Re-Analogisierung des Verhältnisses von Musik und Musiker. Die elektrische Digitaltechnik führt damit paradoxerweise zu einer Gegenbewegung zur kulturellen Digitalität. Der Sampler verkörpert bereits heute die Verschmelzung von Musikinstrument und Aufzeichnungsmedium21

21
Vgl. Heiner Klug: Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität, Dissertations-Manuskript, Düsseldorf 1999.
.

Die Bedeutung der Notenschrift sinkt. In letzter Konsequenz verschwindet damit auch die kategorische Trennung zwischen Musiker und Musikkonsument22

22
Vgl. Glenn Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung, in: Tim Page (Hg.): Glenn Gould: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, Schriften zur Musik II, München 1987.
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Gleichzeitig verliert der Werkbegriff an Bedeutung, mit schwer absehbaren Folgen unter anderem auf das Urheberrecht: Bereits heute sind Arrangement, Keyboardspiel und Sounddesign bei den meistverkauften Musikarten nicht mehr zu


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