4.3. Dynamik musikalischer Kognition
Musik findet im zeitlichen Verlauf statt. Wahrnehmung und Kognition von Musik
haben daher dynamische Aspekte, die bei der Modellbildung berücksichtigt
werden müssen. Die Interaktion motivischer und metrischer Strukturen, die
Rolle des Gedächtnisses bei der Erkennung motivischer Strukturen und der
zeitliche Rahmen, in dem die motivische Struktur erkannt wird, sind hier von
Bedeutung.
4.3.1. Gedächtnis
Das Gedächtnis spielt bei der Wahrnehmung und Kognition von Rhythmen in zweierlei
Hinsicht eine wichtige Rolle. Da die Wahrnehmung von Rhythmen ein zeitabhängiger
Prozeß ist, stellt sich die Frage, inwieweit Rhythmen während des Hörens einer längeren
Sequenz im Gedächtnis bleiben und wie sich dies auswirkt. Weiterhin interessiert, wie
Rhythmen langfristig gespeichert werden und welche Rolle diese Rhythmen
spielen.
Der kurzfristige Effekt des musikalischen Kontextes ist vor allem
im Zusammenhang mit metrischer Kategorisierung untersucht
worden.45
Steven Demorest hat in seiner Untersuchung zur Rolle der Phrasierung für
das Melodiegedächtnis von Kindern deutliche Hinweise dafür gefunden,
daß Motive die Einheiten sind, in denen Musik im Gedächtnis gespeichert
wird.
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Auch das Langzeitgedächtnis spielt eine Rolle bei der Wahrnehmung von Motiven.
Bekannte Motive werden so wie bekannte Wörter leichter erkannt. Aber welche Motive
sind es, die mittel- und langfristig im Gedächtnis bleiben? Einerseits spielen hier
Gestalteigenschaften wie Geschlossenheit und Prägnanz eine Rolle, andererseits auch die
Häufigkeit von Motiven bzw. ähnlicher Motive. Dabei wiederum stellt sich die Frage,
wie sich die Ähnlichkeit von Motiven bezüglich der Bildung von Kategorien
auswirkt.
Die Kapazitätsgrenzen der verschiedenen Gedächtnisebenen stellen Randbedingungen
für die Verarbeitung der Ebenen dar. Für die Segmentierung und Erkennung von
Motiven ist das Kurzzeitgedächtnis entscheidend. Es ist, wie im letzten Kapitel
dargestellt wurde, begrenzt durch die maximalen Längen und Dauern von Motiven. In
der Modellierung kann man das Kurzzeitgedächtnis als ein zeitliches Fenster betrachten,
in dem Informationen für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung stehen. Länge und
Dauer des Zeitfensters sind vermutlich größer als die maximalen Längen und Dauern von
Motiven, denn die Festlegung einer Gruppe erfolgt häufig erst, nachdem eine Note
wahrgenommen wurde, die nicht mehr der aktuellen Gruppe zugerechnet wird. Wenn
man Wörter mit Motiven und Noten mit Silben gleichsetzt, ist die Situation analog zum
Erkennen von Worten in gesprochener Sprache. Häufig kann ein begonnenes Wort auf
verschiedene Weisen fortgeführt oder beendet werden. Erst die Fortsetzung
oder eine längere Sprechpause schafft Klarheit über die richtige Interpretation.
Z.B. kann auf »Ein« folgen: »-fluß«, oder »-gang«, aber auch » Mensch« oder
» Haus«. Wenn man die Längen der größten