16 Rainer Jacob, Vania Meier da Fonseca Die Folge solcher Vorstellungen sind bestimmte Anpassungsprozesse, die dann auf die Lehrpraxis rückwirken. Menschen, die wissen, dass sie beobachtet und beurteilt werden, ändern zwangsläufig ihr Verhalten (Reaktivität). Dieses ist in vielen Fällen weniger spontan. Oft versuchen sie einerseits, die Erwartungen anderer Beteiligter zu erfüllen. Andererseits neigen sie dazu, Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit, die sie nicht öffentlich zeigen möchten, zu unterdrücken. Beides zusammen ist in der Psychologie als Phänomen der sozialen Erwünschtheit3 bekannt. Dieser Zwiespalt kann zu einer Konzentration auf die Wirkung der eigenen Person und ihre Wahr -nehmung durch andere führen: Wird mein Sprachfluss durch viele Interjektionen unterbrochen? Sind meine Scherze schlecht? Was denken meine Kollegen von den Aufzeichnungen?1.1. Vorstellungen über die Wahrnehmung ihrer Person und Rolle Der Aspekt der Selbstwahrnehmung spielt bei der anfänglichen Entscheidung für Aufzeichnungen oft eine große Rolle. » Sich selbst anzuschauen, wird als furchtbar empfunden « , sagt ein Lehrender im Interview. Solche Wahrnehmungen können sich sowohl auf äußerliche Merkmale der eigenen Person beziehen – wie die Bewe-gungen, den Sprachduktus, die Kleidung u. a. - als auch auf die Möglichkeit, fach-lich den eigenen oder auch fremden Ansprüchen nicht zu genügen: Was ist, wenn ich mal Unsinn erzähle? Wenn ich mich hartnäckig verspreche oder inhaltlich den Faden verliere?Nach den ersten Aufzeichnungen reagieren die Menschen auf ihre Befürchtun-gen oft mit genauer Beobachtung, Planung und Vorbereitung. Rust und Krüger (2011) berichten von Lehrenden, die nach ihrer Selbstbeobachtung ihren Kleidungs-stil, ihre Bewegungen oder ihre Publikums-Adressierung veränderten. Andere be-richten, dass sie ihre fachliche Vorbereitung verbesserten. Sobald die Lehrkräfte rea-le Erfahrungen mit Aufzeichnungen gemacht haben, werden dieselben Anpas-sungsprozesse mitunter auch positiv bewertet. Was vorher eine Befürchtung war, wird im Nachhinein als Chance gesehen. In unseren Interviews wurden die Aspekte der Selbstkontrolle, der Verbesserung der eigenen Lehre und der positiven » Wer-bung « mehrfach hervorgehoben (vgl. dazu auch die Ergebnisse von Rust & Krüger, 2011, S. 238).Zusätzlich zu Reaktionen, die direkt auf Befürchtungen beruhen, werden von Lehrenden, die bereits aufzeichnen ließen, aber auch andere Wirkungen berichtet, die eher Erfahrungen aus der realen Praxis darstellen, welche oft nicht antizipiert wurden. Darum wird es im Folgenden gehen.1.2. Vorstellungen über Veränderungen im Ablauf der Veranstaltung oder in der Teilnahme der Studierenden Eine weit verbreitete Befürchtung ist die, wegen der Aufzeichnung künftig vor ei-nem leeren Hörsaal zu stehen. Warum sollten Studierende sich noch in den Hörsaal bemühen, wenn sie den Vortrag auch bequem zu Hause wahrnehmen können? Der