Das horchende (geneigte) Singen
In Carl Orffs "Carmina Burana" tragen die ersten vier Takte zwar den Charakter eines Aufschreies, es stünde uns aber schlecht an, eine derartige seelische Erregung einem Chor vorweg zu suggerieren. Ein "rufendes Singen" erfüllt durchaus den Klangcharakter zu den Worten "O, Fortuna, velut luna statu variabilis". - Die Melismatik zum Frühlingsgedicht "Veris leta facies", der psalmodierende Tonfall, gelingt nur im "horchenden Singen". In der entpersönlichten schwingenden Linienführung wird der Inhalt berichtend ausgesagt. Das ausklingende "Ah" gibt dann eine Vorahnung der noch eingedämmten Frühlingskräfte. - Ausgesprochen "geselligen Charakter" trägt das Lied "Chramer gip die varwe mir". Nicht nur, daß Orffs Werk szenisch gemeint ist, auch die Singenden haben sich miteinander gesellig zu verhalten. Es bliebe Literatur, wenn die Mädchen ins Notenblatt versunken sängen. "Sieh mich an, junger Mann, laß mich dir gefallen". - In situationsgerechtem an die Mädchen gerichteten Zorn stoßen die Männer im Brustton gespielter Empörung hinaus: "Swaz hie gat umbe, das sind alles megede, die wellent an man alle disen summer gan". - Damit sind drei charakteristische Singhaltungen, auf die die Abhandlungen hinweisen möchten, an einem gegenwartsnahen Kunstwerk aufgezeichnet. Unser Verhalten ist beim Singen verschieden. Durch die Belebung der Wechselbeziehungen von Geist, Seele und Körper kann ein besonders sinnerfülltes Singen zustandekommen. Es ist ein ander Ding, den indianischen Weckruf 1 auszurufen, in den Gesang die Weite der Natur hineinzuholen, als horchend und geneigt "Nun bitten wir den heiligen Geist" anzustimmen. Die Unmittelbarkeit des geselligen Singens, des Zu- und Miteinandersingens, wird z.B. von dem Neck- und Fopplied "Rusla, wenn du meine wärst" herausgefordert. Weitere Beispiele seien zur Erläuterung der drei Grundhaltungen genannt:
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