Das neue Lied

Eine kritische Betrachtung

Zur Frage der echten Volksliedsituation

Wo lebt denn wirklich noch Volkslied? Diese zweifelnde Frage erregte vor Jahren in einem Kreis von Singleitern einigen Unwillen. Hatte man nicht überall singende, musizierende Menschen um sich, die Volkslied lebten? Der Zweifel betraf nicht jene Gruppierung Gutgesinnter, wie sie sich in den Zellen der Singkreise findet, sondern er bezog sich auf die Gesamtsituation des weltlichen Lebens und inwieweit in ihm Lied noch seinen notwendigen nicht wegzudenkenden Platz hat. Er fragte aber auch, wo gehört Lied noch zum persönlichen Ausdruck des Einzelnen? Sicher läßt sich in unserem Lande immer noch Brauchtum mit dem ihm gemäßen Liedgut finden, schwieriger ist es schon, Eindrücke zu haben, die tief bewegende Dokumente über die singende Lebensäußerung des Einzelnen sind. Der Krieg verhalf uns zu solchen Eindrücken.

Wir hatten in unserer Flakeinheit einen durchaus primitiven Menschen, dem sein grobflächiges Gesicht und sein wuchtiger Körper den Namen "Neandertaler" eintrugen. Der auf ihn gemünzte Spott hielt sich in angemessenen Grenzen, da man seine Körperkräfte fürchtete. Eines Tages, als bei gewährtem Ausgang nur wenige Männer in der Stellung blieben, hörte man ihn, in einer Baracke allein gelassen, singen. Er sang mit einer kräftigen, wohllautenden Stimme Choräle, Lieder und auch, was ihm von ungefähr in den Sinn kam. Es währte länger als eine Stunde und - kein Zweifel - ein Mensch war in dem Singen mit sich in Frieden. Die Wenigen, die ihn von ferne gehört hatten, erzählten davon weiter und nun wurde aus begreiflicher Neugier versucht, ihn wieder zum Singen zu bringen. Er aber tat keinem den Gefallen. Dann und wann, alleine gelassen, konnte man ihn wieder hören und immer hinterließ sein Singen den Eindruck, daß hier ein Mensch dabei völlig mit sich eins war.