- 60 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Im anschließenden Rondo-Finale wird das musikalische Material des Adagiettos wieder aufgenommen, das erste Mal im zweiten "Grazioso"- Teil des Satzes (Bsp. 3d). Der Klang des reinen Streichersatzes und der in der eher motorisch-kontrapunktischen Umgebung des Finales fremde melodiöse Duktus lassen den Einschub als Reminiszenz erkennen. Die Erinnerung an das Adagietto bleibt hier im Wortsinne Episode und für den Fortgang des Finales zunächst folgenlos: ähnlich wie im Adagietto selbst kommt der musikalische Fluß vorübergehend ins Stocken (Takt 230 ff.); anders als im Adagietto bringt ihn nicht die Fortspinnung der Melodie wieder in Bewegung, sondern - als sei die Episode nie gewesen - das staccato-Achtelmotiv, das dem Beginn der Episode unmittelbar vorausging. Der Vorgang wiederholt sich in der zweiten Reminiszenz (Takt 373-414). Das musikalische Material des Adagiettos wird für den Fortgang des Finales erst bedeutsam und trägt ihn mit, wo es ins kontrapunktische Geflecht miteinbezogen wird, dabei aber seinen Charakter des Emphatisch-Schönen fast vollständig einbüßt. Als solches bleibt das Emphatisch-Schöne im Finale exterritorial; das, wofür es steht - dauernde Erfüllung, "Heimat" - ist dem Immanenzzusammenhang nicht kommensurabel. Auch die Reminiszenzen ans Adagietto im Finale verdeutlichen, daß im Adagietto die Sehnsucht und die Suche nach Glück, nach "Heimat" Ausdruck finden, zugleich aber auch die Trauer über die Vergeblichkeit dieser Suche; ein gefälliges Genrestück, das mit "kulinarischer Sentimentalität" billigen und falschen Trost gäbe, ist das Adagietto jedenfalls nicht.


4. Das Rückert-Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen", entstanden etwa zur gleichen Zeit wie die Fünfte Symphonie und dem Adagietto Adorno zufolge "verwandt", evoziert mehr noch als dieses emphatische Schönheit und verklärte Entrückung. Doch selbst in diese Komposition sind "kritische" Gestalten eingesprengt, wie um allzu große Glätte des Ausdrucks zu vermeiden, am auffälligsten unmittelbar vor dem letzten Einsatz der Singstimme zum Text "... in meinem Lied". Hier erscheint im Orchestersatz der Klang a-c-es-g, harmonisch zu deuten als verkürzter Undezimakkord. Die ausgeprägte dissonierende Binnenspannung des Klangs geht über die sonst in diesem Lied gebrauchten harmonischen Mittel hinaus; sie wird noch geschärft dadurch, daß das Sekundintervall b-c in tiefster Lage, also sehr schwebungsreich, den Klang grundiert und zudem die große Septime b-a in der Harfe und im Horn dynamisch hervorgehoben ist (hier schreibt die Partitur piano vor, für die Streicher dagegen pianissimo). Bau und Instrumentation dieses Klangs lassen ihn, obwohl er in seiner harmonischen Funktion der Logik der Passage sich durchaus einfügt, in ihr und im Zusammenhang des gesamten Lieds fremd erscheinen; er stört, wenn auch nur vorübergehend, den sonst einheitlichen Ton verklärter Entrückung, der dem Lied eigen ist.


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