- 47 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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das sie vom Trommler während der ersten nächtlichen Begegnung gegen die Preisgabe ihres Aufenthaltsortes wiedererhält, ist nach Drewermann als das "Lichtkleid" der Mondgöttin aufzufassen. Verlust und Wiederfinden des Kleides stellen die Perioden des zunehmenden und abnehmenden Mondes dar.

     Alle tragische Liebe auf Erden scheint ihr Vorbild im Lauf der Gestirne zu haben. Phoibe, die Göttin des abnehmenden Mondes, wird während ihrer Abwesenheit am Himmel immer aufs neue in gewisse Liebschaften verwickelt, und es ist das "Geheimnis der schönen Mondgöttin, daß sie in ihren wechselvollen Gestalten einem verhängnisvollen Zauber unterliegt. Sie wird erlöst, wenn eine Person ihrer Liebe sie auf dem "gläsernen Berg" aufsucht (Drewermann, "Der Trommler" 112). Ihr Geliebter ist naturgemäß der Sonnenmann. Immer ist die Liebesgeschichte des Himmels unglückselig und von Untreue überschattet. Der träumerisch liebende Gemahl sehnt sich nach der umglänzten, wunderschönen Frau am Himmel. Und immer wird er bei Neumond, zur Zeit ihrer Vereinigung, da sie ihr Lichtkleid verliert, von ihr enttäuscht (Vgl. ebenso Siecke, Die Liebesgeschichte des Himmels).

     Das jugendlich-schöne Weib in Schönbergs Drama Die glückliche Hand tritt zu Beginn des zweiten Bildes unmittelbar nach dem Aufleuchten des sonnenartigen Bühnenlichts aus einer Falte der Seitenwand hervor. Sie ist in ein "zart hell-violettes, hängendes, faltiges Kleid" gehüllt und trägt gelbe und rote Rosen im Haar. Die "Vollmond"- oder Engelsgestalt der Doppelnatur des Weibes wird in jenem Moment musikalisch treffend gestaltet. Die Musik wechselt im Augenblick ihres Auftretens zum Dreivierteltakt. Die helle Klangfarbe der Instrumentation (Flöte, Klarinette, Celesta, Harfe und Bratsche) und die hohe Lage des Satzes unterstreichen die "himmlische" Leichtigkeit und das Schwebende ihrer Bewegungen. Gleichzeitig herrschen abwärtsgerichtete Tonhöhenbewegungen vor (Beispiel S. 48, Takt 35-37). In jenem Augenblick, in welchem das Weib auf der Bühne erscheint, spricht die Musik von der Möglichkeit ihres raschen Verschwindens. Von vornherein umgibt sie die Aura des Flüchtigen und Vergänglichen, auf die auch die blühenden Rosen in ihrem Haar hindeuten. Der Mann ahnt die Vergänglichkeit ihrer Erscheinung und beginnt offensichtlich übereilt sein sehnsüchtiges Werben: "O du! Du Gute! Wie schön du bist! Wie wohl es tut, dich zu sehn, mit dir zu sprechen, dir zuzuhören. Wie du lächelst! Wie deine Augen lachen, Deine schöne Seele!" (Schönberg, Die glückliche Hand 10-11). Die Vereinigung von Mann und Weib vollzieht sich traumsymbolisch:


Das Weib nimmt einen Becher in die rechte Hand und bietet, indem sie den rechten Arm vorstreckt (an welchem bis zum Handgelenk die Flügel ihres Kleides hängen) ihn dem Mann. Auf den Becher fällt von oben violettes Licht. Pause, die Entzücken ausdrückt. Plötzlich, beim Trompeteneinsatz, hat


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