- 198 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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und Gegenwart ist demnach Abbild eines umfassend sich erinnernden Bewußtseins.

     Im Monodram Erwartung aus dem Jahr 1909 lösen geblasene Signale ängstliche Reaktionen auf eine scheinbar äußere, physische Bedrohung aus. Psyche und Szene, innere und äußere Natur begegnen sich in der Erwartungsangst der Frau als fremde, antagonistische Kräfte. Aus ihrer Fremdheit resultiert die ängstliche Erwartung der Frau des Monodrams. Im Verlaufe der Handlung erweist sich ihre innere Natur im Spiegelbild der äußeren als ihr eigentlicher Gegenspieler. Die musikalisch exakt nachgezeichneten Abwehrbewegungen der Frau sind Reaktionen auf Vorgänge ihrer inneren Triebnatur. (Vgl. Schönberg, Erwartung opus 17. Takt 10-13, 43 u. a.).

     Im Mittelpunkt des Berichts des Überlebenden aus Warschau steht die Erinnerung an die menschheitsgeschichtliche Katastrophe des Holocaust. Die raschen Tremolobewegungen der Streicher in Takt eins bis drei zu Beginn der Kantate basieren auf dem fünften und sechsten Ton der Zwölftonreihe, deren erste Hälfte das Tonmaterial des ersten Formabschnitts bis zum Einsatz des Chores der Juden bereitstellt. Wie in der Begleitmusik zu einer Lichtspielszene (Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe) opus 34 aus dem Jahre 1933 erscheinen flüchtige Bewegungen der Streicher als körperliche Reflexe einer Bedrohung durch akute Angst.

      Namenlos und sinnlos erscheinen die Fluchtversuche der im Warschauer Getto gefangenen und gepeinigten Juden. In der Begleitung der zögernden und unsicher tastenden Fortbewegung der Juden beim morgendlichen "Apell" greift Schönberg auf rhythmische Strukturen der Gehbewegungen der Frau aus dem Monodram Erwartung zurück (Beispiel S. 30, Takt 30-35, Beispiel S. 92, Takt 44). Durch die Aufteilung des Viervierteltakts in 3/8-, 2/8- und 3/8-Werte entsteht in Takt 35 der Kantate A Survivor from Warsaw eine unbeholfene Bewegungsfolge. Ein Totentanz ohnegleichen: Zum Walzer fehlt ein Achtel in der Mitte des Taktes (Beispiel S. 200).

     Den Impuls zur Bewegung der zum "Appell" antretenden Warschauer Juden geben Fanfarenfiguren in Takt 34 (Beispiel S. 199). Staccato-Achtel der ersten Oboe, des Fagott und des ersten Violoncello begleiten in Takt 35 (Beispiel S. 200) die unsägliche Szenerie. Schönberg schafft Spannungen durch Artikulation, Klangfarbe und Rhythmus: Staccato und Portato in Holz- und Blechbläsern, komplementäre Rhythmen, kleinere Intervalle in Gegenbewegung. Die Dynamik überschreitet im Gegensatz zu den Ausbrüchen schwerer Angst aus dem Monodram Erwartung nicht das Forte.

     Während der Jahre um 1910 führt das Spiel der Klangfarben mittels freier kompositorischer Assoziationen in subjektive klangräumliche Vorstellungen ein: so


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