- 302 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Dorothea Kolland
Lokale Tiefenbohrungen

Anfang der 70er Jahre traf sich die kleine Clique der linken Musikwissenschaftler der TU Berlin zur 1. Mai-Demonstration in Neukölln, in der Herrnhuter Straße / Ecke Karl-Marx-Straße bei »Koffer-Panneck«: In dieser Zeit war der »1. Mai auf der Straße« eine Kampfansage an den Berliner DGB, der es vorzog, geschützt »im Saal«, fernab der realen sozialen Bewegungen und Unruhen zu feiern. Wir sahen – zunächst vorsichtig-distanziert, denn mit den traditionellen Demonstrationsritualen hatten wir unsere Probleme – zunehmend unseren Platz »an der Seite der Arbeiterklasse«; Kapitallektüre, Suche nach »demokratischen Lehr- und Forschungsinhalten« und nach marxistischen Ansätzen in unserer eigenen Wissenschaft betrieben wir sehr intensiv und, im Nachhinein betrachtet, sehr fundiert und konsequent, es blieb nicht ohne (karrieremäßig negative, wissenschaftlich eher positive) Konsequenzen für unsere Standortbestimmung als Musikwissenschaftler. Doch die Theorie reichte uns nicht mehr aus.

Neukölln war wie ein fremder Stern, mit der Aura der revolutionären Arbeiterbewegung und Restbeständen von Arbeiterklasse behaftet. Wir wußten nichts über den realen Ort unseres Demonstrationstreffpunktes, wir wußten kaum etwas, was sich im Hintergrund dieser Demonstrationen abspielte. Und daß dieses Terrain auch zum Forschungsobjekt für Musikwissenschaft werden könnte, hätte auch bei mir nur ungläubiges Lächeln hervorgerufen. Die Stecklinge für diese Forschungen wurden aber gerade in dieser Zeit in die Erde gesenkt durch unsere Diskussionen im musikwissenschaftlichen Institut, in denen wir – mit manchmal ungerechter Vehemenz gegenüber unserem Herrn und Meister Carl Dahlhaus – um andere Forschungsmethoden und Forschungsgegenstände fochten und immer wieder neu die Frage des »Cui bono« stellten. Nicht zuletzt das Ausgrenzen weiter Felder musikalischer Realitäten aus dem verordneten Erkenntnisinteresse unseres Faches schien uns nicht mehr akzeptabel.

10 Jahre später wurde Neukölln mein Arbeitsplatz, als Leiterin des Kunst- und später Kulturamtes, von vielen Kommilitonen bemitleidet, weil ich mich so weit von der Wissenschaft wegbegeben hatte, von manchen heimlich beneidet, weil ich immerhin einen festen, relativ gutbezahlten Job hatte. Ich selbst litt nicht – konnte ich doch unabhängig von universitären und fachpolitischen Seilschaften meinen persönlichen Versuch wagen, das, was wir uns im Kollektiv gemeinsam erarbeitet hatten, in der harten kulturellen Realität eines armen, aber an Geschichte und Geschichten reichen Quartiers in ein Zukunftsprogramm von Stadtteilkulturarbeit zu gießen. Und so gänzlich für die Wissenschaft verloren fühle


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