Anfang der 70er Jahre traf sich die kleine Clique der linken
Musikwissenschaftler der TU Berlin zur 1. Mai-Demonstration in Neukölln, in der
Herrnhuter Straße / Ecke Karl-Marx-Straße bei »Koffer-Panneck«: In dieser Zeit war der
»1. Mai auf der Straße« eine Kampfansage an den Berliner DGB, der es vorzog,
geschützt »im Saal«, fernab der realen sozialen Bewegungen und Unruhen zu
feiern. Wir sahen – zunächst vorsichtig-distanziert, denn mit den traditionellen
Demonstrationsritualen hatten wir unsere Probleme – zunehmend unseren Platz »an der
Seite der Arbeiterklasse«; Kapitallektüre, Suche nach »demokratischen Lehr- und
Forschungsinhalten« und nach marxistischen Ansätzen in unserer eigenen Wissenschaft
betrieben wir sehr intensiv und, im Nachhinein betrachtet, sehr fundiert und konsequent,
es blieb nicht ohne (karrieremäßig negative, wissenschaftlich eher positive) Konsequenzen
für unsere Standortbestimmung als Musikwissenschaftler. Doch die Theorie reichte uns
nicht mehr aus.
Neukölln war wie ein fremder Stern, mit der Aura der revolutionären Arbeiterbewegung
und Restbeständen von Arbeiterklasse behaftet. Wir wußten nichts über den realen
Ort unseres Demonstrationstreffpunktes, wir wußten kaum etwas, was sich im
Hintergrund dieser Demonstrationen abspielte. Und daß dieses Terrain auch zum
Forschungsobjekt für Musikwissenschaft werden könnte, hätte auch bei mir nur
ungläubiges Lächeln hervorgerufen. Die Stecklinge für diese Forschungen wurden
aber gerade in dieser Zeit in die Erde gesenkt durch unsere Diskussionen im
musikwissenschaftlichen Institut, in denen wir – mit manchmal ungerechter Vehemenz
gegenüber unserem Herrn und Meister Carl Dahlhaus – um andere Forschungsmethoden
und Forschungsgegenstände fochten und immer wieder neu die Frage des »Cui bono«
stellten. Nicht zuletzt das Ausgrenzen weiter Felder musikalischer Realitäten aus
dem verordneten Erkenntnisinteresse unseres Faches schien uns nicht mehr
akzeptabel.
10 Jahre später wurde Neukölln mein Arbeitsplatz, als Leiterin des Kunst- und später
Kulturamtes, von vielen Kommilitonen bemitleidet, weil ich mich so weit von der
Wissenschaft wegbegeben hatte, von manchen heimlich beneidet, weil ich immerhin
einen festen, relativ gutbezahlten Job hatte. Ich selbst litt nicht – konnte ich
doch unabhängig von universitären und fachpolitischen Seilschaften meinen
persönlichen Versuch wagen, das, was wir uns im Kollektiv gemeinsam erarbeitet
hatten, in der harten kulturellen Realität eines armen, aber an Geschichte und
Geschichten reichen Quartiers in ein Zukunftsprogramm von Stadtteilkulturarbeit zu
gießen. Und so gänzlich für die Wissenschaft verloren fühle |