- 42 -Kim, Jin Hyun: Musikwissenschaft in der Postmoderne 
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individualisierenden Methode auf. Im ersten Kapitel seiner Schrift »Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft« (1926) stellt Rickert sein Ziel dar, den Begriff zu entwickeln, der die gemeinsamen Interessen, Aufgaben und Methoden der nichtnaturwissenschaftlichen empirischen Disziplinen zu bestimmen und gegen die der Naturforscher abzugrenzen vermag.48
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Rickert, H., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart: Reclam, 1986, S. 17.

Rickerts Kritik an dem Dilthey’schen Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften richtet sich gegen den Terminus »Geisteswissenschaft«, der auch die Psychologie subsumiert. Rickerts Ansicht nach gehört die Psychologie nicht zu den Wissenschaften, die sich von den Naturwissenschaften abgrenzen. Deshalb ersetzt Rickert für die Bezeichnung der Nicht-Naturwissenschaften den Terminus »Geisteswissenschaft« durch »Kulturwissenschaft«. Der alle kulturwissenschaftlichen Gegenstände umfassende Begriff der Kultur impliziert die Wertbezogenheit von Gegenständen. Die Beziehung der Werte ist für Rickert eine entscheidende Charakteristik für den materialen Gegensatz von Natur und Kultur. Diesen Gegensatz stellt Rickert auch durch die Unterscheidung von Wahrnehmung und Verstehen fest. Die Gegenstände des Verstehens sind unsinnliche Bedeutungen oder Sinngebilde, während die gesamte Sinnenwelt, d. h. alle unmittelbar gegebenen physischen und psychischen Vorgänge als Gegenstände der Wahrnehmung gelten.49

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Ebd., S. 37.
Somit unterscheidet sich Kultur als das bedeutungsvolle, verstehbare von Natur als dem bedeutungsfreien, nur wahrnehmbaren, unverständlichen Sein.50
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Vgl. ebd., S. 38.
Durch diese Unterscheidung grenzt Rickert die Kulturwissenschaften von der Psychologie ab. Kulturwissenschaften haben also nichts mit dem »Geist« zu tun, mit dem der Inbegriff der verstehbaren, direkt zugängliche[n] Sinnenwelt gemeint ist,51
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Ebd., S. 37.
sondern mit der »Kultur«, die allein unsinnlich verstanden werden kann.

Bei dem Einteilungsproblem der Wissenschaften geht Rickert jedoch wie Windelband nicht von materialen Vorbegriffen, sondern von formalen Bedingungen aus. Deshalb rekonstruiert Rickert die materialen Unterschiede zwischen Natur und Kultur auf der Ebene der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Die rein logisch-formalen Begriffe von Natur und Geschichte bedeuten bei Rickert nicht zwei verschiedene Realitäten, sondern dieselbe Wirklichkeit unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten.52

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Ebd., S. 77.
Ausgehend von dem Kant’schen logischen Begriff der Natur als das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, bildet Rickert als dessen Gegensatz einen ebenfalls logischen Begriff: den Begriff der Geschichte im weitesten formalen Sinne des Wortes, d. h. den Begriff des einmaligen Geschehens in seiner Besonderheit und Individualität, der zum Begriff des allgemeinen Gesetzes in einem formalen Gegensatz steht, [. . . ].53
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Ebd., S. 32.
Daraus ergibt sich das Prinzip der Einteilung der Erfahrungswissenschaften nach der naturwissenschaftlichen – generalisierenden – und der historischen – individualisierenden – Methode.

Die Grundlagen der Geschichtswissenschaften / Geisteswissenschaften als Erfahrungswissenschaften wurden somit durch den Historismus und die philosophischen Erkenntnisprogramme vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn


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