individualisierenden Methode auf. Im ersten Kapitel seiner Schrift »Kulturwissenschaft
und Naturwissenschaft« (1926) stellt Rickert sein Ziel dar, den Begriff zu entwickeln, der
die gemeinsamen Interessen, Aufgaben und Methoden der nichtnaturwissenschaftlichen
empirischen Disziplinen zu bestimmen und gegen die der Naturforscher abzugrenzen
vermag.48
Rickert, H., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart: Reclam, 1986, S. 17.
|
Rickerts Kritik an dem Dilthey’schen Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften
richtet sich gegen den Terminus »Geisteswissenschaft«, der auch die Psychologie
subsumiert. Rickerts Ansicht nach gehört die Psychologie nicht zu den Wissenschaften,
die sich von den Naturwissenschaften abgrenzen. Deshalb ersetzt Rickert für die
Bezeichnung der Nicht-Naturwissenschaften den Terminus »Geisteswissenschaft« durch
»Kulturwissenschaft«. Der alle kulturwissenschaftlichen Gegenstände umfassende Begriff
der Kultur impliziert die Wertbezogenheit von Gegenständen. Die Beziehung der Werte
ist für Rickert eine entscheidende Charakteristik für den materialen Gegensatz von
Natur und Kultur. Diesen Gegensatz stellt Rickert auch durch die Unterscheidung von
Wahrnehmung und Verstehen fest. Die Gegenstände des Verstehens sind unsinnliche
Bedeutungen oder Sinngebilde, während die gesamte Sinnenwelt, d. h. alle unmittelbar
gegebenen physischen und psychischen Vorgänge als Gegenstände der Wahrnehmung
gelten.49
Somit unterscheidet sich Kultur als das bedeutungsvolle, verstehbare von
Natur als dem bedeutungsfreien, nur wahrnehmbaren, unverständlichen
Sein.50
Durch diese Unterscheidung grenzt Rickert die Kulturwissenschaften von der
Psychologie ab. Kulturwissenschaften haben also nichts mit dem »Geist« zu tun, mit
dem der Inbegriff der verstehbaren, direkt zugängliche[n] Sinnenwelt gemeint
ist,51
sondern mit der »Kultur«, die allein unsinnlich verstanden werden kann.
Bei dem Einteilungsproblem der Wissenschaften geht Rickert jedoch wie
Windelband nicht von materialen Vorbegriffen, sondern von formalen Bedingungen
aus. Deshalb rekonstruiert Rickert die materialen Unterschiede zwischen Natur
und Kultur auf der Ebene der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Die rein
logisch-formalen Begriffe von Natur und Geschichte bedeuten bei Rickert nicht zwei
verschiedene Realitäten, sondern dieselbe Wirklichkeit unter zwei verschiedenen
Gesichtspunkten.52
Ausgehend von dem Kant’schen logischen Begriff der Natur als das Dasein der Dinge,
sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, bildet Rickert als dessen Gegensatz
einen ebenfalls logischen Begriff: den Begriff der Geschichte im weitesten formalen Sinne
des Wortes, d. h. den Begriff des einmaligen Geschehens in seiner Besonderheit und
Individualität, der zum Begriff des allgemeinen Gesetzes in einem formalen Gegensatz steht,
[. . . ].53
Daraus ergibt sich das Prinzip der Einteilung der Erfahrungswissenschaften nach der
naturwissenschaftlichen – generalisierenden – und der historischen – individualisierenden
– Methode.
Die Grundlagen der Geschichtswissenschaften / Geisteswissenschaften als
Erfahrungswissenschaften wurden somit durch den Historismus und die philosophischen
Erkenntnisprogramme vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn
|