- 429 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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daß sich hierbei Erscheinungen herausgebildet haben, wie sie in der Geistesgeschichte sonst nicht bekannt sind. Auf jeder Stufe der technischen Entwicklung ist durch technische Möglichkeiten und gleichzeitige Begrenzungen ein bestimmtes Bild gegeben, das sich auf der nächsten Stufe notwendig modifiziert. Es wurde vorher schon als bezeichnendes Beispiel dafür der stumme Film angeführt. Ihm entsprechen auf allen andern in Frage kommenden Gebieten ebenfalls Formen, die in das Gebiet der Kunst hineinreichen, aber sich von allen früher entstandenen Formzwängen dadurch unterscheiden, daß sie nicht künstlerisch, sondern technisch bedingt sind und deshalb einen vorläufigen Charakter tragen. Es ist eine Zeit der provisorischen Kunstformen, in der wir gegenwärtig stehen, aber aus der wir bereits herauszutreten beginnen.


Das Korrelat des stummen Films in der akustischen Technik ist das Hörspiel. Es ist mit Recht in allen ästhetischen Diskussionen immer wieder betont worden, daß es notwendig ist, die eigentümlichen Gesetze der dabei möglichen Kunstart zu studieren. Das Hörspiel darf selbstverständlich nicht eine einfache Nachahmung eines Theaterstücks oder eines Romankapitels sein, ebensowenig wie der stumme Film. Andererseits darf aber nicht vergessen werden, daß die Gebilde, um die es sich hier handelt, durchaus nicht einen ähnlich definitiven oder nur lang dauernden Bestand haben können, wie die aus ästhetischen Bedürfnissen hervorgewachsenen Formen, wie zum Beispiel Theater und Oper. Selbstverständlich ist es möglich, innerhalb der technisch gegebenen Begrenzungen zu künstlerischen Werten eigener Art zu kommen; aber unverkennbar geht der Anstoß dazu von einem Mangel technischer Art aus, der niemals in einen Vorzug umgedeutet werden darf. Stumme Filme gab es nicht deswegen, weil es aus künstlerischen Gründen sinnvoll erschien, stundenlang Handlungen ohne die dazu gehörigen Klangwirkungen vorzuführen; sondern vielmehr deshalb, weil die Technik der Tonwiedergabe noch nicht dazu gelangt war, die akustische Seite des Vorganges mit festzuhalten. Hörspiele gibt es nicht deshalb, weil bei den Menschen dieser Zeit ein tiefes Bedürfnis besteht, sich von der Sinnlichkeit des Augeneindrucks loszumachen und jene Ebene vergeistigter Wirkungen zu betreten, die in der Beschränkung auf klangliche Eindrücke gegeben ist; sondern deshalb, weil die Technik des Fernsehens noch nicht soweit entwickelt ist, um das dazugehörige Bild verbreiten zu können.


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