- 44 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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schauspieltechnisches Mittel erkennt er Einfühlung an, schränkt jedoch ein, sie sei nur ein Mittel.91
91
vgl. Brecht, Werke XVI, 585 und 853
Brechts Kritik an der Einfühlung richtet sich nämlich wesentlich gegen die Einfühlung des Zuschauers in die Stückhandlung. Er wendet sich gegen die kathartische Wirkung des klassischen Theaters beim Zuschauer:

»Uns erscheint von größtem gesellschaftlichem Interesse, was Aristoteles der Tragödie als Zweck setzt, nämlich die Katharsis, die Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung von furcht – und mitleiderregenden Handlungen. Diese Reinigung erfolgt auf Grund eines eigentümlichen Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen, die von den Schauspielern nachgeahmt werden.«92

92
Brecht, Werke XV, 240

Zu beurteilen, ob Brecht hier den aristotelischen Katharsis-Begriff richtig gefasst hat, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.93

93
vgl. zu diesem Begriff den Kommentar zu Goethes »Nachlese zu Aristoteles’ Poetik« in: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, komm. von Erich Trunz, Deutscher Tacshenbuch Verlag, Bd. XII, S. 714ff.
Wesentlich an dieser Stelle ist die Überlegung, ob sich die Katharsis im ›alten‹ Theater wirklich auf den Zuschauer oder auf die Figur bezieht. Denn das Theater, das den am Schicksal der Figuren teilnehmenden Zuschauer dabei Möglichkeiten eigener Handlungsfähigkeit erkennen lässt, unterscheidet sich nicht wesentlich vom Brechtschen Theater. Die Wirkung beider Theaterformen wäre insofern ähnlich, als der Zuschauer zu neuen Handlungsmaximen erzogen werden soll.

Weder die Passivität des anteilnehmenden Zuschauers noch die Aktivität als Resultat von Verfremdung verdankt sich einer auf der Bühne verwirklichten Theatertheorie. Die Freiheit, einen Bühnenvorgang zu glauben, ein Theaterereignis entstehen zu lassen oder im Theater zu lernen, hat jeder Zuschauer, in Unabhängigkeit von der Form des jeweiligen Theaters. Damit eine Theateraufführung wirken kann, braucht sie – in jeder Theaterform – eine Kraft, die den Zuschauer an den Bühnenvorgängen beteiligt. Von diesem Standpunkt aus scheint sehr erhellend, was Ernst Bloch zum klassischen Theater schrieb:

»Was aber Schiller mit seiner moralischen Anstalt meinte, war [...] blühendes Theater und dadurch erst moralische Zweckmäßigkeit, war Szene und dadurch erst Tribunal. Dann erst, durch den Reichtum der Szene hindurch, kann das Theater der Moral dienen [...].«94

94
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, I. Band, Frankfurt/Main Suhrkamp, 1973, S. 493

Um zu wirken – und darin, wirkungsästhetische Theater-Auffassungen zu vertreten, sind sich Brecht und Felsenstein einig – muss der Darsteller seine Rolle auf der Bühne verwirklichen, indem er sich in eine Kunstfigur verwandelt. Und wenn eine Rolle einen kommentierenden Standpunkt zu den jeweiligen Handlungen umfasst, wird der Darsteller mit seinem privaten Ich sich den dazugehörigen physischen Verrichtungen auf der Bühne einfühlend nähern, eben diese beobachtend, wie Salvini sein Lachen und Weinen.

Der Vergleich hat den Gegensatz der Positionen Felsensteins und Brechts differenziert und sollte dabei die Implikationen des Begriffes der Einfühlung erhellen.


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