»Eure naturalistischen Abbildungen waren schlecht gemacht. Darstellend
wähltet ihr einen Standpunkt,
der keine echte Kritik ermöglicht. In euch fühlte man sich ein, und in die
Welt richtete man sich ein. Ihr wart, wie ihr wart, und die Welt blieb, wie sie
war.«85
Brecht, Werke XVI, S. 520
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Brechts Ziel ist folglich die Hervorbringung bzw. Offenlegung eines kritischen
Standpunktes. Als politischer Dichter dachte Brecht natürlich an politische
Vorgänge. Das Aufklärerische seines Theaters sollte darin bestehen, die (schlechte,
veränderungswürdige) Wirklichkeit ihrer Normalität zu entkleiden. Brecht wollte die
Wirklichkeit als veränderbar darstellen. Dabei hielt er für das größte Hindernis ihrer
Veränderbarkeit, dass das Volk (= der Theaterzuschauer) ihre Veränderbarkeit nicht
erkennt. Würde es das erkennen, dann würde es auch die Welt verändern. Darum
zielt Brechts Schaffen wesentlich auf eine kritische Haltung des Zuschauers
ab.86
vgl. dazu ausführlich: Kobel, Jan: Kritik als Genuss. Über die Widersprüche der Brechtschen
Theatertheorie und die Unfähigkeit der Literaturwissenschaft, sie zu kritisieren, Verlag P.
Lang, Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1992. S. 172ff.
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Brechts Theater soll, wenn einer kritischen Haltung dienlich, dann auch emotional
sein:
»Es [das epische Theater] verzichtet in keiner Weise auf Emotionen.
Schon gar nicht auf das Gerechtigkeitsgefühl, den Freiheitsdrang und
den gerechten Zorn. [...] Die ›kritische Haltung‹, in die es sein
Publikum zu bringen trachtet, kann ihm nicht leidenschaftlich genug
sein.«87
Brecht Werke, XVII, S. 1144
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An den Gegenständen der Stücke will Brecht die ihm richtig erscheinende Haltung
erzeugen, sie sind Mittel, zu einer von ihm als zutreffend erachteten Einstellung zur
kritikablen Welt zu erziehen, die er dem Publikum als dessen eigentliches Interesse
unterstellt. Aufgabe des Theaters sei es, die Menschen aus ihrem passiven Umgang mit
der Wirklichkeit herauzuholen, indem ihnen die Veränderbarkeit der Welt nachgewiesen
würde. Brechts Theater bezweckt, sein Publikum zu einem »fremden Blick« auf die
Dinge zu erziehen, damit »das viele gegebene ihm als ebensoviel Zweifelhaftes erscheinen
könnte«.88
vgl. Brecht, Werke XVI, 681
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Mit der moralischen Aufgabe, die er der Kunst zuweist, scheint Brecht insofern keineswegs
weit von den Zielen klassischer Wirkungsästhetik entfernt zu sein. Ihr ging es darum, zum
besseren Menschen durch Kunst zu erziehen. Der Zuschauer sollte lernen, seine Zwecke
aus einer moralischen Haltung heraus zu formulieren. Brechts Theater will zur kritischen
Haltung erziehen, aus der dann die ›richtige‹ Praxis folgt. Dies sei die Aufgabe »unseres
Zeitalters«.89
vgl. Brecht, Werke XVI, 682: »Es ist eine Lust unseres Zeitalters, das so viele und mannigfache
Veränderungen der Natur bewerkstelligt, alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können.
Da ist viel im Menschen, sagen wir, da kann viel aus ihm gemacht werden; nicht nur, wie
er ist, darf er betrachtet werden, sondern auch, wie er sein könnte. Wir müssen nicht von
ihm, sondern auf ihn ausgehen. Das heißt aber, daß ich mich nicht einfach an seine Stelle,
sondern ihm gegenüber setzen muß, uns alle vertretend, Darum muß das Theater, was es
zeigt, verfremden.«
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Den Klassikern sprach Brecht eine Wirkung in den Diensten des Humanismus
ab. Zur Bewusstmachung humanistischer Tendenzen im Sinne einer
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