- 134 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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gesellschaftliche Situation erhebt. Nur so wird Violetta zu einer Leidenden, die gerade nicht an einem nicht erfüllten Verliebtsein, also an dem Scheitern eines bloß partiellen individuellen Interesses leidet, sondern an den gesellschaftlichen Konventionen, die ihrer echten Liebe entgegenstehen, notwendig zerbricht. Die erstmalig das Ideal der aufrichtigen Liebe in sich fühlende Violetta scheitert an der schlechten Wirklichkeit. Die Stärke ihres Gefühles zeigt sich in der Konsequenz, die Violetta ziehen muss: Sie entflieht der Pariser Gesellschaft und zieht aufs Land, wo sie nur für ihre Liebe mit Alfred lebt.

In einen tragischen Konflikt gerät sie erst durch die Forderung des dort plötzlich auftauchenden Vaters von Alfred, der von ihr verlangt, Alfred zu verlassen, um das Glück seiner Kinder nicht durch ihre Liaison mit Alfred zu gefährden. Denn die glückliche Heirat seiner Tochter hängt davon ab, dass sie Alfred verlasse. Der Wunsch, ihr zwielichtiges Pariser Dasein hinter sich zu lassen, drückt sich in ihrer Liebe zu Alfred aus. Ihr Wunsch nach einer bürgerlichen Existenz bedeutet, die bürgerliche Existenz der Schwester Alfreds zu gefähden. Alfreds Vater bezieht die (bürgerliche) Legitimation für seinen Anspruch auf Violettas Verzicht daraus, dass er in Violetta irrtümlich noch die Hure sieht. Ihr Anspruch an sich selbst, die Anforderungen eines bürgerlichen Lebens zu erfüllen, was bedeutet, nicht mehr nur berechnend mit und von den Gefühlen, die sie bei Männern auslöst, zu leben, kollidiert mit dem Anspruch des Vaters, den er im Namen bürgerlichen Glückes unter Hinweis auf seine Vaterliebe erhebt. Sie, die gerade bürgerliches Glück anstrebt, müsste sich gegen eine Inkarnation bürgerlicher Werte – den das Glück seiner Kinder verteidigenden Vater – wenden. Violetta befindet sich in einem Konflikt, dessen beide Seiten zu ihrer Vernichtung führen: gehorcht sie dem Vater, gibt sie ihr gerade gewonnenes Lebensglück auf; gehorcht sie nicht, so negiert sie die Grundwerte ihrer neu gewonnenen Existenz. Daraus folgt, dass Violettas Tragik ihren Ausgang in der mit aufrichtiger Liebe begründeten Abkehr von der verrotteten Pariser Gesellschaft nimmt. Felsenstein bezeichnet die ›Traviata‹ zu Recht als eine Tragödie antiken Ausmaßes. Der Inhalt des Konfliktes Violettas besteht in einer Abwägung höchster bürgerlicher Ideale. Violettas Scheitern ist nicht zufällig, sondern sie scheitert an gerade der Welt, nach der sie sich sehnt. Sie ist eine tragische Figur.


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