Die parodierte Schäfer-Idylle inszeniert Felsenstein auf eine bezeichnende Art
und Weise. Nicht etwa derbe Ungeschicklichkeit der Figuren konterkariert die
Naturschönheiten, sondern gestelztes höfisches Gebaren eine ihm völlig unangemessene
Bühnenwirklichkeit. Saphir alias Daphnis nimmt eine verrenkte, ›ballettöse‹ Haltung an,
während er die Morgenstimmung besingt. Der Gestus der vermeintlichen Schäfer
Fleurette und Saphir entspringt höfischem Gebaren, obwohl ihre aristokratische
Herkunft dem Zuschauer erst später verdeutlicht wird. Galante Posen insbesondere bei
Saphir lassen erkennen, dass dies kein Schäfer ist. Schon hier wird deutlich, dass in der
Schäfer-Idylle die Parodie in den jeweiligen Figuren begründet ist und nicht
in einer Stellung des Regisseurs zu szenischen Konventionen. Dass zweifellos
pastorallyrische Szenen parodiert werden, liegt auf der Hand, jedoch ist die Parodie aus
der Vielschichtigkeit der Figuren entwickelt. Dadurch erzielt Felsenstein eine
parodistische Wirkung, deren Resultat aber nicht Eindimensionalität der Figuren
bedeutet. Diese sind nicht als bloße Gefäße für die Parodie angelegt, Prinz
Saphirs Parodie auf den Schäfer Daphnis begründet sich aus dem Verhältnis des
Prinzen zu seinem incognito. Nicht die Eindeutigkeit des Klamauks, sondern die
Vieldeutigkeit, die im Spannungsfeld eines ernst genommenen Spieles entsteht, prägt das
Zuschauererlebnis.
Nachdem praktisch der ganze Handlungsstrang von Graf Oscars Suche nach Prinzessin Hermia, die er in Fleurette entdeckt, und Popolanis Suche nach einer Rosenjungfrau für seinen Herrn Blaubart ungebrochen illusionistisch dargestellt wurde, löst Felsenstein mit dem Auftritt Blaubarts den Anflug von Illusion auf. Blaubart singt seine Legende (Nr.8) mit direktem Blick zum Zuschauer, die ihn unterbrechenden Choreinsätze seiner Soldaten – also eigentliche Bühnenhandlung – stören ihn bei der ›Legende seines Lebens‹ an das Publikum, jedwede Illusion ist aufgehoben und der Zuschauer, der sich im Spiel ein Stück weit vergessen soll, wird direkt als solcher angesungen. In dem Moment, in dem sich eine Erzählweise etabliert hat, wird sie zwar durchbrochen, jedoch nicht durch einen reflektierenden Kommentar die Aussage des Stückes betreffend, sondern durch den Verweis auf die grundsätzlich spielerische Qualität dieses Theaterstückes, denn Blaubart wiederum steigt nicht aus seiner Rolle aus, er singt zum Publikum als Blaubart. Einerseits ist er lächerlich gezeichnet, insbesondere durch den Zwiegesang mit seinem trotteligen Soldaten-Chor, andererseits durchaus glaubhaft in seiner erotischen Kraft als aristokratischer Verführer. Allen Figuren haftet das irritierende Moment an, als künstliche bis lächerliche Figuren glaubwürdige Charaktere zu transportieren. Insofern oszilliert die Bühnenwelt für den Zuschauer permanent zwischen ergreifender Handlung und Reflexion ermöglichender Distanz. Nur die Darstellung der Boulotte entspricht diesem Konzept nicht. Auch wenn ihre Handlungen ausgesprochen komisch sind, legen sie keine Distanzierung des Rezipienten nahe. Boulotte verkörpert eindeutig den kraftvollen Eros, begehrend und lebendig, ehrlich und ohne Schnörkel. Sie durchbricht die ganze aus höfischem Gebaren erwachsene Schäfer-Idylle und umwirbt Daphnis/Saphir nicht posierend, sondern mit ihrer ganzen, körperlich-sinnlichen Emotionalität, fernab von Deformation ausstellender Karikatur. Verstellen und Verheimlichen – was ja letztlich die Grundlagen für die parodistischen Handlungen der anderen Figuren, die alle etwas zu verbergen haben, sind – ist Boulotte vollkommen fremd.
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