- 236 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat.« Das mag damals seine Richtigkeit gehabt haben. Für den heutigen Menschen, der den Weltkrieg und die neuere Musikentwicklung mitgemacht hat, birgt diese gewiß geniale Schilderung eines in titanischem Ringen mit sich selbst und der Welt liegenden Künstlers wohl kaum viel Rätselhaftes, so sehr ihm die Ausbrüche der Leidenschaft, das dämonisch-phantastische und wild ekstatische seiner Tonsprache Bewunderung abnötigt.« [W33/G]

Die bisher genannten vier Rezensionen, in denen der Weltkrieg angesprochen wird, kommen alle aus Wien. Einer fünften und letzten aus der Feder des abtrünnigen Mahler-Vertrauten Ferdinand Pfohl22

22
Ferdinand Pfohl, Gustav Mahler. Eindrücke und Erinnerungen aus den Hamburger Jahren, hg. v. Knud Martner, Hamburg 1973.
in den Hamburger Nachrichten muß man fast den Vorwurf des Zynismus machen: »das skurrile Scherzo, in dem alle Mißgeburten der Dämmerung, alle Zwitter des Zwielichts und der Nacht, alle Krüppel der Welt ein höchst seltsames Menuett tanzen: Die Einarmigen und Einbeinigen, die Stelzfüße, ja die Gliederlosen; die sonderbaren Spaßvögel aus den Vorhöfen der Hölle, die ihren Kopfe unter dem Arm tragen.« [H21/D]

Es stellt sich die Frage, wie man derartiges im Herbst 1921 schreiben kann angesichts der zahllosen Weltkriegs-Versehrten, die in jener Zeit mittellos und ausgezehrt die Straßen der Großstädte füllten.

In zwei weiteren Nennungen in dieser Kategorie läßt sich die Ausbreitung sozialistischen Gedankengutes erkennen. Die eine gilt ebenfalls der Hamburger Aufführung von 1921 und stammt von Heinrich Chevalley (Kürzel H. Ch.) im Hamburger Fremdenblatt: »Denn dieses quälerische, peinigende und direkt körperliche Schmerzgefühle verursachende fantastische Scherzo mit seinen grimassierenden und fratzenhaften Gebilden und mit seiner musikalischen Darstellung des gleichsam durch eine Uhrfeder in Bewegung gesetzten »Maschinenmenschen« hat doch wohl auch seine Eigenbedeutung. Man mann kaum den sozialen Unterton überhören, der aus ihm herausklingt – jenen prophetischen Klang, der schon im Arbeitermarsch der III. Sinfonie Mahlers aufgefangen wird, und der sich hier zu Vorstellungen verdichtet, die unmittelbar Fühlung gewinnen mit jener harten Welt Wagners, in der Alberich mit seiner symbolistischen Peitsche sein Regiment führt.« [H21/C]

Eine weitere kommt wiederum von Ferdinand Pfohl: »Der fatale, harte, unerbittliche Rhythmus des ersten Satzes – Symbol der Sklavenarbeit, des ehernen Lohngesetzes, das zusammen mit dem Hunger die Welt beherrscht und diesem Werk vielleicht eine soziale Perspektive gibt« [H21/D]

Der gleiche Autor ist auch dafür verantwortlich, im »Lärm und Gepolter« des Schlußsatzes eine Eisenbahnkatastrophe geschildert zu sehen [H21/D].


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