- 233 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Die Idee der Vorahnung, die in der Interpretationsgeschichte eine gewichtige Rolle spielt, läßt sich in den Rezensionen beider Auswertungszeiträume kaum wiederfinden. Die Suche danach führt zu keinen signifikanten Ergebnissen; es lassen sich lediglich wenige sehr unspezifische Verwendungen der Begriffe »Vision« oder »visionär« ausmachen.

Die Rezeption der Symphonie nach dem Ersten Weltkrieg zeigt gegenüber der Vorkriegs-Rezeption deutliche Veränderungen. Der erste Blick richtet sich wieder auf die Militaria und die Weltgeschichtlichen Bezüge. Letztere treten mit insgesamt 9 (16,7 %) etwas stärker hervor, die Militaria mit nur 3 dagegen zurück. Die Leichtigkeit, mit der man vor dem Krieg über den Kanonenkönig Krupp gewitzelt hat, scheint vergangen zu sein, lediglich Julius Korngold erinnert 1933 an diese Konnotation von 1906 [W33/E]. Zwei der drei Nennungen betreffen den gleichen Satz einer Rezension: »Im ersten und letzten Satz finden wir zugleich einen Niederschlag von Mahlers Soldatenliedern mit ihren seltsamen Marschrhythmen« [A26/A]

Eine immerhin beachtliche Feststellung in Hinsicht von Adornos »tiefsten Beziehungen«; auch die Bezeichnung »Soldatenlieder« ist bemerkenswert. Die dritte Militaria-Nennung führt aus, daß das Gesangsthema des ersten Satzes zugleich Leier und Schwert im Wappen führe [K27/B]. Diese Ausführung ist schon bekannt von einer Wiener Rezension von 1907. Hier liegt der singuläre Fall vor, daß der Rezensent A. Stehle der Kölnischen Volkszeitung in seiner Rezension vom 26.10.1927 weite Passagen aus Julius Korngolds Rezension in der Neuen Freien Presse vom 8.1.1907 [W07/H] abgeschrieben hat. Auch Korngold selbst hat in seiner Kritik in der gleichen Zeitung vom 10.1.1933 [W33/E] einige Wendungen seiner früheren Kritik wieder aufgenommen – sie schienen ihm offenbar noch Gültigkeit zu haben.

Bei den Weltgeschichtlichen Bezügen weisen zwei Nennungen mittelbar auf den Weltkrieg hin: »Die ganze Tragik der Weltereignisse tritt aus diesen Klängen hervor« heißt es in der Wiener Mittagspost [Kürzel H. E. H., W19/C] zur Aufführung am 11.10.1919. Im Neuen 8 Uhr-Blatt wird zur Wiener Aufführung am 7.10.1920 gefragt: »Das Pathetische »liegt« ihm [Fried] besonders, und auch unsrer Zeit, die in den Nöten des Tages fast unbewußt das Verständnis für die Schmerzen des Genies in sich zu fühlen beginnt. Mußte wirklich ein Weltkrieg kommen, um die Menschheit für Mahler innerlich reif zu machen?« [W20/B]

Zwei weitere Rezensionen sehen in den veränderten Zeitläuften Auswirkungen für das Verstehen dieser Musik: »Aber das Werk bleibt doch noch ein Mysterium. Vielleicht wehrt unsere an Schicksalsschlägen so überreiche Zeit das Eindringen in die Welt dieses gigantischen Überdrusses ab. Vielleicht ist die Welt des moralischen Ueberdrusses während der Konzeption der »Sechsten« übertrumpft durch die noch häßlichere Welt des Ueberdrusses, der uns ununterbrochen unterjocht.« [W33/A]

»Gustav Mahler schrieb einmal an seinen Freund und späteren Biographen Richard Specht: »Meine Sechste wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine


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