Totengerippen, die ›vor Liebchens Haus‹ marschieren, wird zu einer furchtbaren Anklage gegen den Krieg, umso eindringlicher, als Mahler den Liebesäußerungen seines Soldaten die warme menschliche Melodik des Volksliedes zugrunde gelegt hatte. [...] Wir wissen bereits, daß Mahler die Volksliedmelodik immer dann anschlägt, wenn es sich um den warmen Ausdruck menschlicher Gefühle handelt. Es steckt ein Element echten Realismus in dieser Technik, weil ihr die Erkenntnis zugrunde liegt, daß diese Gefühle aus dem Volk stammen. Die Gefährdung, die Anfechtung des Volkstons stellt Mahler in scharfen Dissonanzen und grellen Akzenten dar. Sie schildern [...] das, was Mahler für das Böse hielt. Hier kommt er der Wirklichkeit manchmal sehr nahe, am nächsten dort, wo er Krieg und Unterdrückung dem Frieden und Glück des Menschen bewußt gegenüberstellt.«91
Knepler verweist in dieser durchaus sozialistisch gefärbten Interpretation auf das Lied des Verfolgten im Turm. Der Antagonismus von Dissonanzenreichtum und verzerrter Volksliedmelodik in den Strophen 1 und 2 und echter Volksliedcharakteristik in den Strophen 3 und 4 war am Beispiel von Revelge hier in Kapitel IV herausgearbeitet worden.
c. Militärmusik und Untergang in der Sechsten SymphonieDie Interpretationsgeschichte der Wunderhorn-Lieder hat offen gelegt, daß der Bezug der Soldatenlieder zum Krieg zunächst kaum thematisiert wurde: Man romantisierte, bagatellisierte oder negierte ihre drastischen Schilderungen. Nur schemenhaft, etwa im Vergleich mit Callot und Goya, zeigten sich erste Annäherungen. Es war der Zeit zwischen 1920 und 1930 vorbehalten, die Aussage der Lieder mit der erlebten Realität schrittweise in Beziehung zu setzen. An diese Vorgaben anknüpfend richtet sich der Blick nun auf die Sechste Symphonie mit der Fragestellung, ob und wann hier Bezüge zum Thema Krieg hergestellt worden sind und an welchen Erscheinungsformen der Musik sie festgemacht wurden. Schon vor ihrer Uraufführung am 27. Mai 1906 waren drei ausführliche Darstellungen der Sechsten Symphonie Mahlers erschienen. Es handelt sich zum einen um den Thematischen Führer von Richard Specht, dessen Vorbemerkung mit dem 1. Mai 1906 datiert ist, zum anderen um die beiden Artikel von Ernst Otto Nodnagel, von denen der eine in der Neuen Zeitschrift für Musik am 23. Mai 1906 und der andere im zweiten Mai-Heft der Musik 1906 erschien, also fast gleichzeitig. In der Vorbemerkung entschuldigt Specht sich dafür, dieses »Programmbuch« verfaßt zu haben, der sich immer als Gegner von Programmbüchern bekannt habe. Er rechtfertigt die Schrift damit, daß er nichts anderes wolle, als das vorbereitende oder zur Erinnerung dienende Lesen der Partitur zu erleichtern. Sie diene also zum Verstehen der Partitur, während das Werk selbst eher bei mehrfachen Vorführungen zu erobern sei als mittelst eines »Führers«.92
Charakteristisch sei in diesem Werk wieder die – diesmal in den Außensätzen am deutlichsten hervortretende – Vorliebe für marschartige Rhythmen. Specht verweist |