Lydia
Alain ernsthaft, dass sie ihn heiraten wollte. Der Charakter der I. Gnossienne
steht gegensätzlich zu dieser in Liebe ausgesprochenen Heiratserklärung. Die
Musik mutet hier fast wie eine innere Stimme Alains an, die sich wehrt. Sein
Unbehagen wird auch im Folgenden offenbar, wenn er erklärt, er könne Lydia
nicht begleiten, da er in die Klinik zurück müsse. Deutlicher zeigt sich das
ambivalente Verhältnis zu Frauen in Segment 35, wenn Leroy in einem Straßencafé
die vorüberziehenden Pärchen und Frauen beobachtet und zudem noch vom
interessiert herüberschauenden Mädchen am Nachbartisch betrachtet wird. In dieser
Situation fühlt sich Alain sichtlich unwohl, so dass er rückfällig wird und den
Cognac hinunterstürzt. Hierzu erklingt abermals die I. Gnossienne. Die Musik
verklammert in diesen Fällen folglich thematische Motive der inneren Handlung des
Protagonisten.
Die syntaktischen Funktionen der Musik in der Mikrostruktur
Neben den eben bereits erwähnten Funktionen der Musik, die in die Makrostruktur
eingreifen (Erstellen epischer Bezüge durch das mehrmalige Verwenden von Stücken),
soll an dieser Stelle das Verhältnis von Musik und Schnitttechnik und Montage
hervorgehoben werden. Hierbei wird exemplarisch Take 5 eingehender analysiert, um zu
zeigen, wie die Musik den filmischen Rhythmus bestimmt.
Take 5 und die verwendete III. Gnossienne besitzen eine Sonderstellung im Kontext
der Musikdramaturgie des Films: Die Gnossienne ist das einzige Stück, welches
vollständig erklingt. Zudem wird es nur einmal montiert, während das Gros der übrigen
Stücke mehrmals verwendet wird. Die Musik begleitet Segment 12, einer ziellosen
Irrfahrt Alains in seinem Zimmer in der Klinik. In diesem Abschnitt scheint er sich zu
langweilen: er betrachtet Fotos seiner Frau Dorothy, spielt mit Gegenständen wie
Zigarettenschachteln, einer Holzfigur, einem Seidentuch etc. Mit stetiger Unruhe streift
er ohne erkennbares Ziel murmelnd vor dem Spiegel, an dem das Datum ›23
juillet‹ steht, entlang, bis der Blick auf Lydias Scheck ihn wieder in die Realität
zurückzuholen scheint. Die Musik wird in dieser Szene oftmals absichtlich asynchron
zum Schnitt geführt. Ein markantes Beispiel ist der Basston a in Takt 35, der
erklingt, bevor Malle auf das Foto schneidet, das Alain und Dorothy zeigt. Die
Ruhelosigkeit Alains findet in der Musik ihre Entsprechung, wenn zu der hemiolischen
Struktur der Musik (Takte 24–28; eine 3/2-Struktur in der rechten und eine
4/4-Struktur in der linken Hand) kein Schnitt in dieser musikalischen Phrase auf
einer betonten Zählzeit (weder linker noch rechter Hand) eingesetzt wird. Die
sechs Einstellungen, die zu den Takten 24–28 montiert werden, zeigen Alain
beim Spielen mit einem Melonenhütchen, wobei er teilweise im Spiegel gezeigt
wird. Die Schnitte setzen jeweils auf der 3. und 4. bzw. 8. Achtel ein, zeitweise
sogar zwischen den Achteln. Durch diese Asynchronität von filmischem und
musikalischem Rhythmus wird die Ruhelosigkeit Alains optisch und visuell dargestellt.
Parallel zum diskontinuierlichen Schnitt (Alain wird zusammenhangslos bei
verschiedenen Tätigkeiten, wie dem Betrachten seiner Schuhe und dem Setzen der
Schachfiguren gezeigt, wobei die Montage keine kontinuierlichen Bewegungen
Alains wiedergibt) vermittelt die Schwerelosigkeit der Musik somit den Eindruck
eines Menschen, der den festen Boden unter den Füßen verloren hat und mit
seiner Zeit nichts anzufangen weiß: »Wie später in der Salonflucht der Wohnung
von Cyrille und Solange
|