motiviert sind, weichen diejenigen, die extern die Handlung begleiten,
stilistisch nicht von den übrigen ab, so dass auch sie von einem imaginären
Orchester im Bild herrühren könnten. Somit ist zu erklären, warum die Musik
trotz ihres verhältnismäßig großen Anteils an keiner Stelle überflüssig erscheint
und der Anteil von über 50 % an der Gesamtlänge nicht auffällt. Louis Malle
selbst sagt denn auch, dass er die Musik dezent einsetzte: »In Pretty Baby,
jazz was a part of the scene – the beginning of jazz. It was a part of daily
life, but I used it very discreetly because I didn’t feel the picture needed a
score.«607
Stärker noch als die Django Reinhardt-Takes in Lacombe Lucien ist die Musik mit
einem gewissen Ort verbunden. Somit geht sie mit den visuellen Aspekten des Films
(Einrichtung des Bordells etc.) und den übrigen auditiven (Geräusche und Dialoge) eine
Einheit ein, in die sie fest integriert ist.
Neben dieser ›natürlichen‹ Begleitung der Handlung treten vor allem die
atmosphärischen Qualitäten der Musik hervor, die auch Malle hervorhebt:
»In the picnic, there’s that New Orleans combo playing ›After the
Fall‹,608
Es handelt sich hier offensichtlich um einen Druckfehler. Der korrekte Titel lautet After the
Ball.
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a
very famous song of that time, and it’s very much in the spirit of the scene, but it wasn’t written
for it.«609
Malle bezeichnet den Gebrauch der Musik in diesem Film als comment, wobei in
seiner Beschriftung der Wörter comment im Gegensatz zu counterpoint, also
Kontrapunkt, steht: »Sometimes I use music as a comment, and at other times as a
counterpoint: against the mood [. . . ]. I’d say it’s used more as a comment in Pretty
Baby.«610
Somit stimmen die atmosphärischen Qualitäten der Musik in den meisten Fällen mit der
Grundstimmung der Bilder überein, wobei allerdings die Schwierigkeit auftaucht, dass
Bilder in den seltensten Fällen eine eindeutige Grundstimmung haben. Zweifellos
korrespondiert die Musik in den meisten Fällen mit der Atmosphäre des Bordells; es
entsteht nicht der Eindruck, als ob es den Prostituierten samt Violet elend und
schlecht ginge. Dass deren Leben dennoch nicht frei von Sorge ist und gerade
Violet ständig zwischen der Rolle als Kind und Erwachsene pendelt, kommt
meistens dann zum Vorschein, wenn die Musik einmal schweigt. So hat die
Musik einen großen Anteil an der Aufhebung des traditionellen Moralgefüges
(vgl. Einleitungskapitel zu diesem Film). Es wohnt ihr eine Art euphemistische
Ablenkungsfunktion inne – sie vermag den Filmbetrachter in eine angenehme
Atmosphäre einzulullen, die ihn die eigentliche Problematik und Perversität einiger
Filmszenen verdrängen lässt. Allerdings ist die moralische Verurteilung der
Kinderprostitution und die daraus resultierende, vom heutigen Zuschauer möglicherweise
empfundene Kontrapunktierung durch die Musik stets im Kontext der Epoche zu
sehen. Zur Zeit der Handlung des Films war diese Form von käuflichem Sex
durchaus etabliert und an der Tagesordnung. So ist auch der Gebrauch bzw. die
Wirkung der Musik auf den heutigen Filmbetrachter nicht mit der zeitgenössischen
Rezeption zu vergleichen. Musik war in jenen Tagen ein unverzichtbarer Bestandteil
derartiger Etablissements, und der Kontrast der alkoholseligen Festmusik zur
menschenverachtenden Institution des Kinderbordells wurde nur von derart sensiblen
Personen erkannt, wie sie im Film Bellocq und Claude darstellen,
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