An diesem Punkt offenbart sich die Gretchenfrage, die auch bei der Analyse und Zuordnung von Musik im Film oftmals Probleme bereitet. Entscheidet sich der Regisseur für eine derartige Filmweise, weil er eine für den Zuschauer einsichtige Wirkung intendiert? Handelt es sich um subtile Manipulation, die das unbewusste Absorbieren von Bildern ausnutzt, um Botschaften zu vermitteln (eine Vorgehensweise also, die Malle auf akustischer Ebene scharf verurteilt)? Oder handelt es sich um eine rein ästhetische Entscheidung, die gleich einem persönlichem Vermächtnis und Kommentar, die im Sinne von L’art pour l’art nur ihrer selbst willen eingesetzt werden, dem Werk innewohnt? Dieses Beispiel verdeutlicht, dass bei aller dokumentarischen Genauigkeit eine vollkommen neutrale Darstellung – die selbstverständlich sowieso nie gegeben ist – offensichtlich nicht Malles Intention entspricht. Trotz dieses Details hat Malle durch die Verwendung von Synchronton und Handkamera mit Lacombe Lucien eine ästhetisch durch die Indien-Filme beeinflusste Synthese aus Spiel- und Dokumentarfilm geschaffen, die – auch durch das kontroverse Thema begünstigt – dem Filmbetrachter weitgehende Meinungsfreiheit garantiert, da sie vor allem auf musikalischer Ebene nicht zu einer Identifikation mit dem Protagonisten zwingt.
Pretty Baby – ein (akustisches) Epochenfresko (3)Der 1977 gedrehte Spielfilm Pretty Baby markiert einen neuen Abschnitt in Malles Schaffen: den Beginn der amerikanischen Filme 1976–1987. Zum ersten Mal in seiner Karriere arbeitete der Regisseur mit einer Produktionsfirma aus Hollywood zusammen (Paramount). Nachdem er bereits in der 60er-Jahren mehrere Angebote aus den USA bekam, diese jedoch aufgrund der Drehbücher verwarf, nutzte er die Gelegenheit, den Film Pretty Baby zu drehen, dessen Drehbuch er mit der Ausstatterin Polly Platt schrieb. Pretty Baby behandelt mehrere Themen. Neben dem Aspekt Kinderprostitution im New Orleans von 1917 stellt der Film für Malle vor allem eine Liebesgeschichte zwischen der zwölfjährigen Violet und dem Fotografen Bellocq dar, »a weird love story, but a love story«.571
Violet, die in einem Bordell bei ihrer Mutter, der Prostituierten Hattie, aufwächst, fiebert ihrem Eintritt in das professionelle Berufsleben, der Versteigerung ihrer Jungfräulichkeit entgegen. Sie verliebt sich in Bellocq, einen passionierten Fotografen, der täglich in ihrem Etablissement weilt, um Prostituierte zu fotografieren. Nachdem Hattie einen ihrer Freier heiratet, zieht Violet für kurze Zeit zu Bellocq, der sie heiratet, als das Vergnügungsviertel Storyville geschlossen wird. Hattie holt ihre Tochter schließlich zu sich zurück, um ihr eine bürgerliche Erziehung zu ermöglichen. Bellocq bleibt als gebrochener Mann zurück. Auch in diesem Film setzt sich das Prinzip fort, welches bereits Le Souffle au coeur und Lacombe Lucien kennzeichnete: Malle inszeniert ein heikles Thema (in den |