eine vom Regisseur intendierte Richtung durch den Filmklang in
stärkerem Maße als durch das Bild möglich ist. Im Gegensatz zum Auge leistet
der auditive Sinn das »emotional-unbewußte Erfassen der Umwelt und das
Fühlen«,380
Schneider, Norbert Jürgen Handbuch Filmmusik I. Musik im Neuen Deutschen Film.
München: Ölschläger 1986, S. 64. Vgl. das Kapitel »Auge und Ohr: Psychologisches und
Physiologisches«. In ebda., S. 64 ff.
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zumal die Wahrnehmung durch das Ohr einen kollektiven Aspekt
beinhaltet, während das Auge individuell und differenzierend
verfährt.381
Durch eine neutrale Filmklang-Gestaltung, die sich durch wenig Effekte und einen
geringen Anteil extern montierter Musik auszeichnet, wird dem Rezipienten ein gewisser
Spielraum gelassen, den er durch eigene Reflexion ausfüllen muss. Die Auswirkungen
dieser cinéma direct-Erfahrungen auf die späteren Filme beschränken sich nicht nur auf
die Filmklang-Ebene, sondern berühren auch Bereiche wie das Casting (Malle wählte in
späteren Filmen häufig Laien bzw. vor der Kamera unerfahrene Theaterschauspieler)
und das Dirigieren von Schauspielern (Gewähren eines Raumes für eigenen Rhythmus
und Interpretation anstelle von präzisen Instruktionen etc.), um die Natürlichkeit
und Spontaneität der Dokumentarfilme auch in die Spielfilme zu übertragen.
Aus diesen Gründen kann der Einfluss von Calcutta und L’Inde fantôme (auf
letzteren Film ist Malle nach eigenem Bekunden am stolzesten unter all seinen
Filmen)382
Vgl. French (1998), S. 295
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auf das Werk des Regisseurs kaum überschätzt werden.
Vive le tour! / Bons baisers de Bangkok
Die Filme Vive le tour! und Bons baisers de Bangkok sind im Rahmen dieser Arbeit in
einem Kapitel zusammengefasst, da sie im Schaffen Malles die ersten verwirklichten
Dokumentarfilme nach seiner Arbeit mit Cousteau (Le Monde de silence 1956) darstellen
und ihre Entstehung zeitlich nah beieinander liegt. Im Folgenden sollen Hintergründe
und Ästhetik der Filme kurz skizziert werden, um gleichzeitig die Verwendung des Tons
zu hinterfragen.
Vive le tour!
Mit der Dokumentation des Radrennens Tour de France erfüllte sich Malle einen
Kindheitstraum, da er von klein an mit diesem Großereignis aufgewachsen war. Er folgte
im Sommer 1962 drei Wochen lang dem Tour-Trek auf einem Motorrad, begleitet von
den Kameraleuten Ghislain Cloquet und Jacques Ertaud, und hatte am Ende
der Tour 17 Stunden Filmmaterial, das er jedoch schließlich auf 18 Minuten
zusammenkürzte.
Vive le tour! ist nicht – wie es der Titel vermuten ließe – eine feierlich-enthusiastische
Hommage an das sportlich-gesellschaftliche Phänomen Tour de France, sondern vor
allem eine Beschreibung der Belastung der Sportler und der »single-mindedness of
sport«383
Rollet, Ronald T. (1977a): »Vive le tour!«. In: Film Library Quaterly 4/77, S. 9–12, hier
S. 9
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Nicht zufällig gilt die Tour als das härteste Sportereignis
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