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0.  Die Dokumentarfilme

»Ich fühlte mich von der Welt abgeschnitten und verbrachte mein Leben mit Schauspielern, Drehbuchautoren und anderen Filmleuten. Ich lebte nicht in der wirklichen Welt, ich lebte in einer Phantasiewelt, in einer Welt der Fiktion. Ich hatte mich leergelaufen wie eine Autobatterie. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich neu aufzuladen. Also habe ich innegehalten. Ich habe versucht zu leben, anstatt zu filmen. Ein Glück, daß ich in diesem Augenblick nach Indien gehen konnte. Dort konnte ich leben und gleichzeitig filmen.«325

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Louis Malle in Süddeutsche Zeitung 27. 3. 1974, zit. n. Roth, Wilhelm: »Außen-Ansichten und Einzelheiten. Zu den Dokumentarfilmen«. In: Arnold (1985), S. 23–28, hier S. 23

Dieses Zitat stammt aus den frühen 70er-Jahren. Es verdeutlicht zwei Aspekte, die für Malles Werk von Bedeutung sind – die Motivation zu Dokumentarfilmen und die Stellung der Indienreise und der daraus entstandenen Filme. In der Karriere des Regisseurs spielten Dokumentarfilme eine nicht zu unterschätzende Rolle. Häufig unterbrach er die Reihe der Spielfilme, um sich aktuellen oder exotischen Themen zuzuwenden. Bereits der erste Film, an dem er mitwirkte, war eine Dokumentation: Le Monde du silence, eine Produktion von Jacques-Yves Cousteau, bei der Malle als Co-Regisseur und Kameramann tätig war. Es ist anzunehmen, dass Malles immer wiederkehrendes Bedürfnis nach Dokumentarfilmen seinen Ursprung in den vier Jahren der Zusammenarbeit mit Cousteau hat.

Louis Malle hat seine Dokumentarfilme einmal als »échappées«,326

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Mallecot (1978), S. 21
als »Ausreißversuche« bezeichnet. Damit verdeutlicht er die Notwendigkeit für ihn, den Rhythmus des Spielfilmbetriebes zu durchbrechen und neue Impressionen und neue Kraft (»santé mentale«)327
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Louis Malle in Jeune Cinéma 184 (11/87), zit. n. Prédal (1989), S. 86 f. (»mentale Gesundheit«)
zu gewinnen.

In den folgenden Kapiteln soll versucht werden, die visuelle und auditive Ästhetik der Dokumentarfilme herauszuarbeiten; mögliche Entwicklungen des Stils werden aufgezeigt und die Funktion des Tons analysiert. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht primär die Musik Untersuchungsgegenstand ist, sondern die auditive Analyse auch (oder gerade) Geräusch und Sprache mit einschließt. Besonders für den Bereich des Dokumentarfilms ist dieses von großer Wichtigkeit:

»In der Ästhetik des dokumentarischen Films gilt nur der Originalton als ›realistische Ebene‹, - jeder weitere Eingriff in das akustische Panorama, also bereits das Hinzufügen eines Geräuschs oder das Hervorheben einer Atmosphäre ist eine Gestaltung, die in jene zusätzliche und künstlerische Ebene gehört, die im Spielfilm vornehmlich der Musik zugeordnet war. Daraus folgt: Musik stellt im dokumentarischen Film keine Sonderschicht dar, sondern ist zusammen mit Tönen, Geräuschen, Atmosphären und Dialog bzw. Kommentar Teil der ›Sonorität‹ (Klanglichkeit) eines Films. In Umkehrung gilt auch:


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