- 111 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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der Faszination für den Mitschüler, der Juliens Interesse durch die Kerzen und die für ihn mysteriösen nächtlichen Gebetspraktiken anregt.

Der B-Teil erklingt ein letztes Mal im Abspann. Malle zitiert hier die Takte 57 ff. Der Gestus der Musik, der hier an einen verzweifelten Aufschrei erinnert (es handelt sich in Takt 57 um den dynamischen Höhepunkt des Stücks), spiegelt die Tragik der Beziehung zwischen den Jungen wider. Ein weiteres Ausbauen der Freundschaft, die sich entwickelt hat, wird durch die Verhaftung unmöglich. So vereint der B-Teil, der im Laufe des Films durch die Beziehung semantisiert wurde, im Abspann wenigstens die Namen (diese erscheinen in Takt 57 vor schwarzem Hintergrund), die beiden Protagonisten finden an dieser Stelle ein letztes Mal zueinander.

Die sorgsame Sparsamkeit in der Verwendung der Musik verfehlt nicht ihren Sinn und ihre Wirkung. Malle nutzt die der Schubertschen Musik immanenten Ausdrucksqualitäten. In dem Zitat in der Einleitung zu diesem Kapitel ist bereits auf den Stellenwert des emotionalen Charakters von Schubert-Stücken hingewiesen worden. In der Tat scheint seine Musik oftmals das Abbild erlebter Emotionen zu sein, die dem Zuhörer durch die Klänge mitgeteilt werden:

»Schuberts Musik [...] ist nicht selten ein weiches Clair-obscur, das geheimnisvolle Tiefen ahnen lässt, Tiefen der Melancholie, der Trostlosigkeit, einer erschütternden Leiderfahrung, die am ergreifendsten dort wirkt, wo ein versöhnliches Dur dieses Leid mit einem verklärenden Glanz überzieht [...].«269

269
Wolters (1994), S. 322

So auch im Falle des Moment musical im Film Au revoir les enfants. Das Stück endet parallel zum Abspann mit dem A-Teil und einem Dur-Akkord. Der Zuschauer wird an dieser Stelle nicht mit aufrührerischer, betont tragisch anmutender Musik im großen Gestus konfrontiert, sondern mit dem kleinen, häuslich-geborgen wirkenden Klang der Schubert-Miniatur. Gerade der für Schubert typische Klaviersatz (verdoppelte Terz mit Grundton in der Rechten Hand) verleiht dem Stück eine gewisse emotionale Wärme, die durch den Gegensatz zum dramatischen Ende der Handlung in ein melancholisches Verlangen nach eben dieser Wärme und einen Weltschmerz umschlägt, die Tragik der Situation somit wesentlich effektiver widerspiegelt, als dieses eine größere musikalische Form und ein aufrührerischerer Gestus erreichen könnten. Emmanuelle Castro, die Cutterin des Films, weist zurecht auf die (scheinbare) Einfachheit des Stücks hin: »[. . . ] c’est Schubert, il y a une raison à ça, c’est un côté enfantin, en tout cas simple et c’est aussi un film très simple de visage et cette musique n’envahit pas l’image, c’est quelques petites notes etc.«270

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»[die Musik im Film von] Schubert ist nicht zufällig ausgewählt; sie hat einen kindlichen Charakter und ist auf jeden Fall sehr einfach. Der Film hat ebenfalls ein einfaches Gesicht, und die Musik überwuchert nicht das Bild, sondern besteht nur aus einigen kleinen Noten«, zit. n. Le bon plaisir: Louis Malle

Hier wird der gemeinsame ästhetische Ansatz von Bild- und Musikdramaturgie deutlich: Die auf der Bildebene konstatierte Zurückhaltung schlägt sich auch in der Musikbehandlung nieder. Castro spricht von der Einfachheit (die nicht pejorativ zu verstehen ist), die ein wesentliches Merkmal der Melodiebildung bei Schubert ist und seine Popularität und leichte Fasslichkeit ausmacht. Malle gelingt folglich mit geringem Aufwand, einem Stück, von dem teilweise nur die Melodie zitiert wird, ein großer Effekt. In der Einfachheit der Musik liegt der Grund für ihre Wirkung.


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