Zwischen Naturtreue und Illusion – Zum Begriff der
Natürlichkeit
bei der elektroakustischen Übertragung klassischer Musik
Jochen Stolla
1.
Musik ist heute überall verfügbar und allgegenwärtig – auch klassische
Musik1
- Unter klassischer Musik wird hier die traditionelle europäische Kunstmusik verstanden.
Damit ist ausgeschlossen einerseits die Popularmusik, andererseits elektronische Kunstmusik
und ihre verwandten Gattungen. Diese Richtungen sind in ihrer primären Darstellungsform
elektroakustisch vermittelt, weshalb für ihre medienkritische Diskussion andere Bedingungen
gelten.
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von der hier die Rede sein soll. Bedingung für die Verfügbarkeit und Allgegenwart der
Musik ist ihre technische Reproduktion, die seit den Zwanzigerjahren dieses
Jahrhunderts auf der elektroakustischen Übertragung und Speicherung von Schall
basiert.
Aber obwohl Musik überall und jederzeit wiedergegeben werden kann, wenn nur die
entsprechenden Apparate zur Verfügung stehen: es bleiben doch grundlegende
Unterschiede zur Darstellungsweise im Konzert, die auch durch die Ausweitung der
technischen Mittel nicht überbrückt werden können. Die Unterschiede gründen sich vor
allem auf drei Tatsachen:
- Musik im Konzert ist orts- und situationsgebunden. Wer Musik im Konzert
hört, begibt sich an einen bestimmten Ort, in der Regel den Konzertsaal,
und in eine gefügte Situation, die vom Gegenüber der Musizierenden und
der Hörenden geprägt ist und die einen umfangreichen sozialen Kontext
mitführt.2
- Vgl. hierzu etwa Helmut Rösing und
Alenka Barber-Kersovan, Konzertbezogene Verhaltensrituale, in: Herbert Bruhn, Rolf
Oerter, Helmut Rösing (Hg.), Musikpsychologie: Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg
1993, S. 136–147.
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Die Orts- und Situationsgebundenheit von Musik ist durch die elektroakustische
Übertragung weitgehend aufgehoben. Übertragungsmusik wird überall gehört,
häufig im privaten Raum, und büßt so ihren vorgefügten sozialen Kontext
und ihre Ereignishaftigkeit ein.
- Übertragungsmusik ist auf das bloß Akustische reduziert. Bei der Wahrnehmung
von Musik lassen sich aber die akustischen nicht von anderen Reizen trennen,
denn „das Erleben von Musik [kommt] generell durch eine Kopplung von
real gegebenen auditiven Reizen mit optischen Eindrücken und Vorstellungen
zustande“3
- Helmut Rösing, Musik – ein audiovisuelles Medium: Über die optische Komponente der
Musikwahrnehmung, in: Musikwissenschaft zwischen Kunst, Ästhetik und Experiment:
Fs. Helga de la Motte-Haber, hg. von Reinhard Kopiez u. a., Würzburg 1998, S. 453.
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Auch wer übertragene Musik hört, nimmt zwar Optisches
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