GENF
Als ich von Paris aus nach Süden fuhr und über die heutzutage bei uns offensichtliche Tendenz
nachdachte, den Schulgesang zu vernachlässigen, fiel mir an einem Zeitungsstand ein Exemplar
von Le Petit Journal in die Hand. Der Leitartikel war eine Abhandlung über
"Das vaterländische Lied in Deutschland".
"Wir sagen gewöhnlich", - begann der Verfasser -, "und wir glauben in Frankreich fest
daran, daß wir 1870 vom deutschen Schulmeister besiegt wurden. An dieser Feststellung
ist viel Wahres, aber die Jugenderzieher haben den teutonischen Geist weniger mit
theoretischem und technischem Wissen angereichert, als durch Gemeinsinn und jene
besondere Gesinnung, die das tägliche Singen in ganz Deutschland hervorgebracht hat.
Bismarck erklärte einmal in Anlehnung an ein Wort Napoleons, daß derjenige über die
Zukunft verfüge, der die Schulen in der Hand habe. Die Aufgabe der Schule besteht in
Deutschland jedoch nicht - wie bei uns - darin, den Schülern mehr oder weniger
Geographie oder das metrische System einzudrillen. Vielmehr geht es vor allem um die
Entwicklung einer religiösen und patriotischen Gemeinschaft. Dieses höchste Ideal wird
durch die Gesangbildung wunderbar erreicht. Von den Vogesen bis zur russischen Grenze
singen die Deutschen immer und überall, nicht nur in den Kirchspielschulen und in
Studentenversammlungen, sondern auch in Kindergärten, in Asylen für geistesschwache
Kinder und auf Schulfahrten. All diese Lieder haben die Liebe zum Vaterland und zum
Kaiser zum Gegenstand, denn diese beiden Bereiche sind für die getreuen Untertanen
Wilhelm II.untrennbar"
Und der Verfasser zeigt weiter, wie die Deutschen in Schulliedern ihre Helden des Krieges und
der Staatskunst, ihre Schlachten und konstitutionellen Wendepunkte feiern. Unter dem Einfluß
der Musik, so sagt er, wird die nationale Idee aufgebaut und erhalten.
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